WMDEDGT – 5. Juli 2024

Unter „Was machst du eigentlich den ganzen Tag“, kurz #wmdedgt, versammeln sich die Tagebuchbloggenden an jedem 5. eines Monats und berichten vom Tag. Initiiert wurde das von Frau Brüllen.

Ha! Schon gestern Abend dachte ich, wie gut, dass morgen WMDEDGT ist, dann kann ich berichten: Mein Fünfter dieses Monats begann damit, dass Punkt Mitternacht die Lichter im Wohnzimmer angingen.

Darum hatte ich sie gebeten, als freundliche Vorwarnung an mich selbst, der ich auf dem Sofa schlief, denn um 0:10 Uhr würde der Wecker klingeln. Ich musste Bahnhofstaxi spielen, war pünktlich wach und angezogen, wer selbstverständlich nicht kam, war der Zug, was hatte ich auch erwartet. Der Verspätungsgrund: „Behördliche Maßnahme“. Ich bin inzwischen an einem Punkt angelangt, an dem ich keinen der Gründe mehr ernst nehmen kann, nein, ich bin mir sicher, es gibt bahnintern Wettstreits, wer den absurdesten Grund für eine Verspätung oder einen Ausfall erdenken kann. Der hier ist allenfalls Mittelmaß, weil er wahr sein könnte.

Aufregen lohnte sich nicht, dafür war ich auch viel zu müde, also scrollte ich am Smartphone gegen das Einschlafen an und durfte nach dem Taxijob mit knapp einer Stunde Verspätung gegen 1:30 Uhr ins Bett. So kurz wie die Nacht war, so zerknittert sah ich heute früh im Spiegel aus, der Kaffee glättete, was glättbar war.

Bei der Arbeit viel Telefoniererei. Es gibt Menschen, die schreiben freundlich klingende und sehr lange E-Mails, und sie schreiben gern nahezu täglich neue mit immer drängelnderem Unterton. So ein Verhalten macht mich aggressiv. Mit solch einem Menschen habe ich gerade zu tun, ausgerechnet zu einer Datenschutzfrage, das Thema erhitzt die Gemüter ähnlich schlimm wie Gendersternchen. Meine Güte. Es hilft dann auch nicht, dass ich weiß, dass wir alles richtig machen wollen und unsere Vorgänge wirklich kritisch hinterfragen. Aber Anfragen bei externen Datenschutzbeauftragten benötigen nun mal eine klitzekleine Bearbeitungszeit, und das bietet genug Raum für eine weitere E-Mail mit offen versteckten und sinnlosen DSGVO-Drohungen. Bei allem Verständnis für das Infrage stellen (gerade) von „das haben wir immer so gemacht“-Prozessen: bleib doch mal entspannt.

Noch ein Kaffee.

Meine Corona-Erkrankung neigt sich dem Ende entgegen, der Test ist inzwischen negativ. Der Husten bleibt und nervt fürchterlich, immerhin bin ich damit nicht alleine. Mittags gab’s irgendein Zeug aus dem Kühlschrank, was da halt weg musste. Danach zwar endlich produktives Arbeiten, aber die kurze Nacht machte sind bemerkbar. So blöd, die wenige Energie heute ging für doofen Kram drauf.

Ich schlitterte „och, bin überraschend wach“ in einen frühen Feierabend, der bald von „so müde war ich noch nie“ überlagert wurde. Also Mittagsschlaf, ein bisschen was nachholen. Danach Haushalt, dringend notwendiges Verpacken von Geschenken und ein bisschen lesen.

Wir beschlossen spontan: heute bleibt die Küche kalt, wir gehen aus. Da um 18 Uhr ein wichtiges Spiel in der Fußball-Europameisterschaft der Herren anstand, wollte das Etablissement sorgfältig gewählt sein. Es spielte Deutschland gegen Spanien, wir tippten deswegen darauf, in einem böhmischen Restaurant unbehelligt essen zu können.

Stellte sich raus: die hatten zu. Warum schreibt man das nicht auf die Website? Saßen vielleicht gegenüber in der Kneipe, da liefen die ersten Minuten Fußball. Ein paar Meter weiter ist ein „Balkan Restaurant“. Sollte man das nicht mit Bindestrich schreiben? Ich aß ein balkan-traditionelles Champignonrahmschnitzel.

Plötzlich Gejubel, Deutschland hatte ausgeglichen, irgendwer checkte heimlich Ergebnisse. Man nickte sich zu. Zurück zu Hause schaute ich das Spiel zu Ende und veröffentlichte derweil den Beitrag. Meine Voraussage: ein Team gewinnt (ich behielt recht).

Neulich am Crêpe-Stand

Ich: „Ich nehm den Klassiker. Einen mit Nutella, bitte.“

Verkäufer: „Kommt sofort.“

Ich schaue ihm beim Werkeln zu. Der Mann steht hier schon seit vielen Jahren in diesem kleinen Wägelchen und brät Würstchen und Crêpes.

Ich: „Mit Karte zahlen kann ich hier nicht, oder?“

Er wendet den Crêpe: „Auf gar keinen Fall, nein.“

Ich: „Dachte ich mir schon. Bei ganz kleinen Geschäften wie Ihrem kommt das bestimmt als letztes an.“

Er: „Wenn’s nach mir geht, kommt es hier niemals an. Ein paar Jahre noch, dann ist es mir egal. Ich will mich damit einfach nicht mehr rumschlagen müssen.“

Ich: „Hmhmm, kann ich verstehen.“

Er gibt Nutella auf den Teig: „Sie brauchen dafür erstmal so nen Lesegerät, das muss gemietet werden. Dann braucht das Strom, ich müsste das zu Hause täglich laden, und dazu dann die Kosten für die Transaktionen.“

Ich: „Ich habe mitbekommen, dass die Lesegeräte wohl bald entfallen können, dann zahle ich per Handy oder Karte direkt an Ihrem Handy. Aber so lange die Transaktionskosten bestehen, würde ich das an Ihrer Stelle auch nicht machen.“

Er faltet den Crêpe: „Die meisten Kunden finden irgendwo doch noch Bargeld. Und wenn ab und zu einer deswegen wieder geht… da kann ich mit leben. Mein Steuerberater hätte übrigens auch mehr Arbeit damit.“

Ich, zahle bar: „Im besten Fall hat er damit eines Tages weniger Arbeit. Aber naja, darüber unterhalten wir uns vielleicht in zwei Jahren nochmal.“

Er gibt mir das Wechselgeld: „Dann bin ich noch hier.“

Wir verabschieden uns und ich beiße in meinen leckeren Crêpe.

Das war der Juni 2024

Sich Freiräume nehmen. Dieses Motto zog sich versehentlich im Untergrund durch meinen kompletten Juni. Hier und da tauchte es plötzlich auf, und überraschte auch mich selbst, zum Beispiel, als ich gerade diesen Satz in meinem Tagebuch fand:

Ich wollte die Wohnung aufräumen, aber ich prokrastinierte und schlief noch am Vormittag beim Lesen ein.

Ich mag, wie ich hier in aller Kürze vom Geplanten abdrifte. Lesen ist Aufräumen im Gehirn, Schlafen ebenfalls, alles richtig gemacht.

Ach, Thema Gehirnaufräumen: Anfang Juni war Europawahl, und dass mir dieses schauderhafte Erlebnis schon viel länger her zu sein scheint, zeigt, wie sehr ich es gerne verdrängen möchte. Einige Tage verbrachte ich danach in mentaler Schockstarre, obwohl ich mit diesem Wahlergebnis sogar gerechnet hatte. Weiterer aufarbeitender Worte bedarf es vermutlich nicht, ich könnte es auch nicht so schön sagen wie bei Thorstens Blog, Herzbruch und Buddenbohm. Die drei sind verärgert, verwundert, verblüfft und enttäuscht und gehen unterschiedlich mit diesen Emotionen um. Einer der Wege ist es, den Nachrichtenkonsum auf ein aushaltbares Maß zu verringern, und da haben wir es wieder, mein Monatsmotto. Mit der Politik versöhnte mich am Ende Loriot. In diesem TikTok-Filmchen spricht er über Politik im Allgemeinen und im Fernsehen, und warum er sich lieber über die Wählenden statt über die Politik lustig macht. Ich mag den Mann.

Trotzdem besann sich mein Körper kurz nach der Wahl auf das ihm wohl längst bekannte Monatsmotto und beschloss, Schwindel zu entwickeln und nicht mehr verschwinden zu lassen. Ein enttäuschendes Erlebnis, hätte ich mir die Birne zugeballert, hätte es sich wenigstens gelohnt. Eine ergebnislose HNO-Untersuchung und einige Tage später verschwand das alles wie von allein. Brauchte wohl auch mal Freiraum, der Kopf.

Als Freund von Apple-Geräten schaute ich die diesjährige WWDC, eine der zwei großen Werbeveranstaltungen des Jahres, und war beeindruckt von den Funktionen des maschinellen Lernens, die im Winter eingeführt werden sollen. Einige Tage später verkündete Apple, übrigens eines der wertvollsten Unternehmen dieser Erde, dass ein Großteil der Funktionen womöglich nicht in Europa Einzug halten werde. Wegen des DMA (Gesetz über digitale Märkte).

Und jetzt bin ich hin- und hergerissen. Die neuen Spielereien fand ich toll und hätte sie gern. Aber dass die EU ein schwergewichtiges Unternehmen wie Apple zu solch einem Schritt bringen kann, das freut mich auch. Weil das Gesetz sofort Wirkung zeigt. Und weil das Unternehmen damit zugibt, dass die neuen Funktionen gegen dieses Gesetz verstoßen, wieso sollten sie sie sonst zurückhalten. Und das wiederum bedeutet, dass sie zumindest in diesem Bereich als Torwächter auftreten und keine fairen Wettbewerbsbedingungen ermöglichen wollen. Natürlich möchte Apple die User mit dem Vorgehen gegen dieses Gesetz und damit gegen die EU aufbringen, aber zumindest bei mir funktioniert das nicht.

Im Juni hörte ich ein Hörbuch, das das Zeug zu meinem persönlichen Hörbuchhighlight des Jahres hat. „Hannes“ von Rita Falk (ja, die mit dem Eberhofer) hat mich angerührt, vielleicht auch ein bisschen durch-. Ein sehr warmherziges Buch, wunderbar vorgelesen von Johannes Raspe. So ist das mit der Kunst: Bringt sie etwas in dir zum Schwingen, erfreu dich dran. Und darum freue ich mich über den Zufallsfund in der Onleihe.

Freiräume nehmen, das ist auch, wenn man sich Zeit für Sport einräumt. Wobei. Es ist ja nicht so, dass irgendwer keine Zeit dafür hätte, wir haben die alle, es ist halt eine Prioritätenfrage. Stolz machte ich also Zeit für den Sport frei, völliger Unsinn, wie gesagt, aber es klingt besser, und blieb sogar bei dem Plan. Das tat mir sehr gut. Ich merkte noch keinen direkten Effekt, außer einer mentalen Befriedigung und einem langsamen Hineinwachsen in den Trainingsrhythmus, als ich mich mit Corona ansteckte.

Erstmals in meinem Leben, möchte ich betonen, zumindest erstmals mit Test bestätigt, das ließ sogar die geschäftige Ärztin kurz aufhorchen. Dann ergänzte sie, dass es beim ersten Mal ja etwas fieser werden könne, das hatte ich leider vergessen. Ihr kennt das sicher alle, aber für mich ist es neu: Diese Krankheit fühlt sich ja jeden Tag anders an! Es begann mit Fieber (erwartet) und un-end-li-cher Müdigkeit (überraschend, aber akzeptabel), ging am nächsten Tag weiter mit Nasenbluten (wtf) und Schwindel (dein Ernst, siehe oben), Tags darauf bekam ich Ohrenschmerzen und Tinnitus (WTF?!). Ohrenschmerzen? Ich habe nie Ohrenschmerzen! Ich weiß auch gar nicht, was man dagegen machen kann. Das Internet sagt, kühlen oder wärmen. Danke, Internet. Flankiert werden diese Tage mit einem ständigen neben-sich-Stehen, das kenne ich zwar schon, aber auf Länge irritiert es doch sehr.

Bis vor einigen Tagen dachte ich, dieser Rückblick würde wohl mit einer leidend verfassten Symptomliste enden, aber ich hatte den Bachmannpreis vergessen. Was für ein schönes Event! Der Bachmannpreis, das ist Germany‘s Next Topmodel für Literatur, ohne überflüssigen Glamour, ohne langweiliges Casting und ohne spitze Schreie. Dafür gibt es genau so viel Tratsch, eine sehr angenehme mediale Begleitung in den sozialen Medien, auch mal Tränen, eine mehrtägige, werbeunterbrechungsfreie Liveübertragung, und – und das ist das Beste – vierzehn tolle Autor:innen mit völlig unterschiedlichen Texten, die sie vor Publikum und Jury vorlesen. Die besteht übrigens aus sieben Personen. Ein tolles Event, ich wiederhole mich, aber als ich am ersten Tag fiebrig vom Sofa aus zuschaute, dämmerte mir: Ich fühl mich zwar scheiße, aber dafür kann ich das hier alles mitverfolgen. Nächstes Jahr nehme ich mir eventuell Urlaub dafür.

Der erheiterndste Text war zweifellos „Das Gurkerl“ von Johanna Seebauer, in dem die Eskalation rund um einen völlig belanglosen Gegenstand erzählt wird: eine saure Gurke. Auf der Seite des Bachmannpreises gibt es die großartig vorgetragene Lesung, den Text und die Jurydiskussion. (Es möge bitte die Hand heben, wen die Geschichte auch an das Weihnachtsbeleuchtungswettrüsten in Stenkelfeld erinnert.)

Alle weiteren Lesungen und Diskussionen sind ebenfalls auf der Website abrufbar, da kann man sich schon mal ein paar Stunden tummeln. Viel Spaß!