Beim Fernsehen über meine Identität nachgedacht

22. August 2025 · Kommentieren

Das war komisch! Eigentlich wollte ich nur gemütlich eine (die!) Schnulze gucken, erhielt aber zusätzlich eine Erkenntnis zu meiner eigenen Identität, oder zumindest zur Identitätsbildung.

Neulich war ich mit anderen unterwegs. Eines Abends kam die Idee auf „Pretty Woman“ im Fernsehen zu schauen. Gesagt, getan, wir versammelten uns in einem der Hotelzimmer, machten einen Wein auf und legten Taschentücher fürs obligatorische Gruppenflennen bereit. Einziger Nachteil der Aktion: Der Film lief auf einem Privatsender, das bedeutet alle Nase lang eine Werbeunterbrechung.

Ich schaue seit gut fünfzehn Jahren kein lineares Fernsehen mehr und bei den paar Sendungen, die ich aus den Mediatheken des Privatfernsehens schaue, wird in meinem Heimnetz die Werbung rausgefiltert. Darum war ich ganz neugierig, ob und wenn ja, wie sich die Werbung inzwischen verändert hat. Schon beim ersten Werbeblock stellte sich heraus, dass alles so bescheuert ist wie bisher. Die Werbung ist weiterhin:

  • Inhaltsleer, wenn man beim Gesagten mal genau hinhört
  • Übertrieben, als wären alle handelnden Personen auf Drogen
  • Unlogisch, sobald man sich ein paar Sekunden Zeit nimmt, das Gezeigte auf sich wirken zu lassen

Ich begann, mich über die Werbung auszulassen und fühlte mich im gleichen Moment denjenigen Menschen überlegen, die von solcher Werbung angesprochen sind. Wer ging denn solch billigem Zeug auf den Leim? Immer, wenn in stummgeschalteten Werbepausen das Gespräch auf andere aktuelle TV-Formate kam, wiederholte ich, so wie hier jetzt, dass ich seit fünfzehn Jahren kein lineares Fernsehen mehr schaute. Ich sah mich nicht als Zielgruppe dieses Senders und hielt mich ziemlich deutlich für was Besseres. Dann setzte mein Gehirn ein und ich fragte mich, was für ein unsympathischer Wesenszug da gerade zutage getreten war.

Mir fiel auf: Mein jetziges Ich hatte soeben von einem recht hohen Ross auf mein damaliges Ich herab geblickt. Denn damals habe ich all diese Sendungen geschaut, kannte jede Werbung und alle Fernsehformate.

Zurzeit lese ich ein Buch, in dem es unter anderem um Community-Building geht. Eine Community, steht da in den Grundlagen, kann nur entstehen, wenn eine irgendwie geartete Abgrenzung existiert. Das ist ja auch logisch, denn eine Gruppe von Individuen ist nur dann als Gruppe zu verstehen, wenn es Personen gibt, die nicht dazu gehören. Es geht also um ein Wir-Gefühl, das zwangsläufig irgendwo enden muss. „Wir“ und „die anderen“. Gleichzeitig entwickeln Communities und deren Mitglieder eine gemeinsame Identität, die Gruppe als Ganzes gibt sich also ein Selbstverständnis. Die Personen innerhalb der Gruppe übernehmen dieses Bild zum Teil in ihre persönliche Identität, sofern sie sich ausreichend stark als Teil der Community verstehen und sich mit ihren Werten, Normen und Symbolen identifizieren.

Kurz: Eine Community erhält, wenn sie ausreichend aktiv ist, von ganz allein ein Gruppengefühl, eine Identität und sogar eine Persönlichkeit. Die einzelnen Gruppenmitglieder übernehmen diese Elemente teilweise in ihre eigene, individuelle Identität.

Ganz offensichtlich hat sich in den vergangenen fünfzehn Jahren also etwas in mir verändert. (Zum Glück, möchte man anmerken.) Ich bin, um bei den Begriffen zu bleiben, offenbar aus der Community „wir schauen Privatfernsehen“ ausgetreten. Stattdessen bin ich wohl Teil der Gruppe „wir streamen Filme on-demand“ geworden und scheine zu glauben, mich ganz stark von der früheren Community abgrenzen zu müssen. Mit Gedanken wie „die anderen“, „die Unerleuchteten“ oder „die, die es noch nicht geschnallt haben“. Nur: Was unterscheidet mich da noch groß vom Klischee des Veganers, der diesen Lifestyle überall kund tut?

Mir hat das zu denken gegeben. Immerhin habe ich das mit der Entstehung einer Identität in einer Gruppe und mit der Abgrenzung zufällig am lebenden Beispiel verstanden. Ich fange deshalb aber nicht an, Privatfernsehen zu schauen, die Werbung ist wirklich dumm und völlige Zeitverschwendung – aber dabei kann man ja neue Schnittchen holen oder die Wäsche falten.


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