„Ein wenig Leben“ von Hanya Yanagihara

28. Juli 2025 · Kommentieren

Dieses Buch ist gleichzeitig absolut empfehlenswert und auf gar keinen Fall. Ich glaube fast, das ist wie bei After Eight: Man kann es nicht ausstehen oder ist begeistert.

Aaaalso. Dieses Buch habe ich in der Hörfassung erlebt, 35 Stunden dauert die. Das ist fast Arbeit. Mit dieser Rezension tue ich mich ebenfalls schwer, und darum schreibe ich auf, wie ich beim Versuch, diesen Text zu verfassen, hin und her oszilliere.

Einerseits ist das Buch so packend und mitreißend, dass ich es wärmstens weiterempfehlen kann. Ich habe gelacht, geweint, ich war sauer und habe mich gefürchtet. Wenn ein Buch das vermag, muss es gut sein oder zumindest zu mir gepasst haben.

Andererseits ist es so brutal und unbarmherzig, dass ich bei der Empfehlung sämtliche verfügbaren Inhaltswarnungen aussprechen muss. In der Geschichte geht es um psychischen und körperlichen Missbrauch, um Traumata, um selbstverletzendes Verhalten, es wird gestorben, sich angeschrien, es geht um Krankheiten, Krankenhäuser, Trauer und mehr, und all das ziemlich detailliert beschrieben.

Einerseits kann die Geschichte ganz einfach umrissen werden: Es werden einige Jahrzehnte im Leben der vier Freunde Jude, JB, Willem und Malcolm erzählt, von der späten Jugend an. Im Zentrum steht Jude, dessen Schicksal und welche Auswirkungen es auf seine Umwelt hat. Das klingt ganz harmlos.

Andererseits ist Jude derjenige, dem all die oben genannten Dinge widerfahren sind, die Autorin hat ernsthaft so viel Schlimmes für nur eine einzige Person vorgesehen. Jude ist ein seelisches und in großen Teilen auch körperliches Wrack, und kann Nähe nur sehr schwer zulassen – das geht schon beim Händeschütteln los. Er glaubt es nicht, wenn man ihm nette Dinge sagt, ist misstrauisch und stets unverbindlich. Ein schwieriger Zeitgenosse also, wieso sollte man sich ihm dann fast 1000 Seiten lang widmen?

Weil Jude gleichzeitig eine liebenswerte, fürsorgliche und auch gutaussehende Person ist, deren Geschichte wir Stück für Stück kennenlernen und ihn mit jedem Kapitel besser verstehen können. Diese merkwürdige Mischung sorgt aber dann dafür, dass sich Männer wie Frauen von ihm angezogen fühlen. Er hat entgegen aller Wahrscheinlichkeit sogar einen großen Bekanntenkreis. Im Freundschaftsquartett unterstützen sich alle gegenseitig, treffen sich häufig und sind füreinander da. Ganz besonders für Jude, der das alles nur schwer annehmen kann.

Obwohl Hanya Yanagihara alle Protagonisten als klug, schön, erfolgreich, wohlhabend, äußerst intellektuell, musisch und künstlerisch begabt zeigt, hat mir das Buch gefallen. Achso, natürlich können sie alle gut kochen. Ich finde das reichlich überzogen, wahrscheinlich war das Ziel dabei, die Fallhöhe möglichst groß zu gestalten. Sie ist da ziemlich schonungslos vorgegangen: Als Hörer wurde ich in wirklich jeden von Judes Abgründen mitgenommen. Jede Misshandlung, jeder Missbrauch, jede Krankheit, all die fürchterlichen Erfahrungen, die dieser Mensch hat durchleben müssen. Manchmal war das für mich so schlimm, dass ich das Hörbuch pausieren musste.

Es ist unmöglich, den Gesunden die Logik der Kranken zu erklären.

Aber dann ist da wieder diese grenzenlose Hingabe und Aufopferungsbereitschaft seiner Freunde bei dem Versuch, ihn über diese traumatischen Erlebnisse hinweg zu bringen. Oft ist es auch möglich, dass sie alle ein ganz normales Leben führen (so normal, wie es eben sein kann, wenn man ständig beruflich durch die Welt jettet und sich Häuser und Gemälde zulegt). Das ist stellenweise richtig rührend. Und auch lustig: Im Fitnessstudio wurde ich komisch angeguckt, als ich mir zuerst am Rückenstrecker Tränen wegwischte und danach bei den Kniebeugen lachte.

Dennoch ist das Maß an Gewalt verstörend. Ich stumpfte obendrein irgendwann ab und ertappte mich dabei, wie ich dachte: „Ja klar, natürlich muss er jetzt noch verprügelt werden. Logisch, dass er sich selbst verletzt. Wundert mich nicht, dass er vor Schmerzen in Ohnmacht gefallen ist.“ Genauso war es bei den Unterstützungsangeboten der Freunde: Die Situationen begannen, sich zu ähneln, und Hanya Yanagihara muss sich die Frage gefallen lassen, ob das nur dazu dient, die Qual des Protagonisten zu verlängern.

Die Geschichte wird maßgeblich entlang zweier Zeitstränge erzählt: Judes Leben mit seinen Freunden ab dem Ende seiner Unizeit und das ab der Zeit als Kleinkind. Das sorgt dafür, dass man zwischendurch auch mal durchatmen kann. Man lernt schnell, dass auf jede gute Zeit auch wieder eine fürchterliche kommen wird, die das Bisherige wirklich nochmal in den Schatten stellt, obwohl das gar nicht möglich sein sollte.

Also! Soll man sich dieses Buch geben? Das muss jede:r für sich selbst entscheiden. Das Hörbuch ist von Torben Kessler sehr gut vorgelesen, ich habe ihm gerne zugehört. Gefallen hat mir, wie die Freunde miteinander umgehen, wie sie Tiefen und Höhen erleben und mich dabei mitnehmen. Das war sehr schön. Selbst die unguten Passagen, wo ich Judes Schmerz fast körperlich mitfühlen konnte, fand ich beeindruckend. Denn wie gesagt, nicht viele Bücher schaffen das. Deswegen bewerte ich es gut, kann aber völlig verstehen, dass es auch gegenteilige Meinungen gibt.

★★★★★
Mein Profil bei Goodreads

Kategorien:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert