Medien: Schockieren für Reichweite – muss das sein?

»Heutzutage muss man schockieren, um die Leute zu erreichen.« So oder ähnlich hört und liest es sich häufig in diversen Medien. Gemeint ist, dass die Produzenten aktueller Formate den Zuschauer oder Zuhörer längst nicht mehr einfach unterhalten können. Unterhaltung, so die landläufige Meinung, sei nicht länger interessant oder fesselnd genug, der Konsument würde sich dann anderem zuwenden. Ist das so?

Das ist eine Theorie, die ich zwar nachvollziehen kann, die ich aber nicht unterschreiben würde. Sicher ist es wahr, dass in Zeiten von Internet und neuen Konsumierungstechnologien wie Tablets oder Smartphones die Medienschaffenden sich neu überlegen müssen, wie sie ihre Werke auch weiterhin an die Frau und den Mann bringen. Ohne, dass sie wegschalten. Sicher ist es auch wahr, dass das vor zwanzig Jahren noch nicht so gewesen ist.

Filme und Radio haben ja das Problem, dass sie in der Regel als Einbahnstraße funktionieren. Jemand sendet und hofft, dass jemand anderes empfängt – und zwar die ganze Zeit und vor allem auch die eingebettete Werbung. Klappt das nicht, stürzt der ganze finanzielle Rahmen ein. Die Zuschauer haben das Problem erkannt und sich zusammengerottet. Wenn sie der langweiligen Einsamkeit auch keine Abhilfe schaffen können, so verleihen sie den eindimensionalen Medien über soziale Medien wie Facebook und Twitter eine Tiefe, über die sich die Produzenten nur wundern können. Eigendynamik und instantane Rückmeldungen zum gesendeten Material?

Ihr »Neuland« betreten die Medienmacher zunehmend, wenn auch langsam – und natürlich auch nicht ohne das eine oder andere Fettnäpfchen mitzunehmen. Sie verstehen, dass zufriedene Konsumenten heutzutage mehr brauchen als ein simpel abgespieltes Format. Wir wollen umgarnt werden und sitzen plötzlich am längeren Hebel, denn das Angebot ist wirklich reichhaltig genug.

Aber zurück zur Frage: Wollen die Menschen geschockt werden? Oder müssen sie das vielleicht, um sie bei der Stange zu halten? Meine Aufmerksamkeit erreichte diese Technik erstmals mit den Gerichtssendungen am Vormittag. Auf allen Privatsendern lief der gleiche Kram, Kalwass, Hold, Salesch. Wenn nicht gerade Recht gesprochen wurde, dann zogen wenig begabte Schauspieler in Talksendungen emotional blank und trugen irre Familienfehden aus. Fremdschämen deluxe. Dass diese Idee zog, war schnell klar, und so halten sich »scripted reality«-Formate bis heute in allen Farben und Formen.

Shopping Queen, Berlin Tag und Nacht, die Trovatos, Familien im Brennpunkt, Frauentausch und so weiter und so fort. Auch wenn wir alle wissen, dass die dort erzählten Geschichten nicht wahr sind sondern einem Drehbuch folgen, blenden wir das beim Sehen aus und freuen uns über diese ach so blöden Menschen und ihr bescheuertes Verhalten.

Es geht aber auch anders. »Breaking Bad«, die Kultserie des todkranken Lehrers, der seine Qualitäten als Drogenproduzent unter Beweis stellt, schockt auch. Hier werden keine echten Menschen bloßgestellt, nein, hier geht es viel subtiler zu: In der Serie fällt zum Beispiel ein halb aufgelöster, menschlicher Körper durch die Zimmerdecke in die Diele eines Hauses und spritzt in alle Richtungen – die Sauerei ist schier grenzenlos. Nicht genug damit, es wird ausführlich gezeigt, wie die beiden Schuldigen sinnlos versuchen, die matschigen und klebrigen Überreste zu beseitigen. Mit Eimern und Schwämmen statt mit einer Schaufel, so wie es wohl jeder normale Mensch getan hätte. Serien dieser Art gibt es mittlerweile viele. Den Anfang machte vielleicht »Six Feet Under«, die Geschichte eines Beerdigungsinstituts, in dem auch schon mal ein Fuß verloren geht.

Groteske Szenen, die den Zuschauer erschaudern lassen und ihm auf verschiedene Arten gleichzeitig fast körperlich weh tun, sie sorgen dafür, dass das Gezeigte aus dem Fernseher heraus ins eigene Wohnzimmer klettert. Dieser Tage veröffentlichte Netflix eine neue Serie mit dem Namen »Sense8«. In den ersten paar Folgen sieht man mehrfach Hetero- und Homo-Sex, natürlich fast nackte Menschen und auch eine Schwulenparade kommt nicht zu kurz. Worum es in dem Film geht? Um übernatürliche Fähigkeiten. Das, ganz richtig, hat überhaupt nichts mit dem Vorgenannten zu tun.

Müssen Medien heutzutage also schockieren, um spannend zu bleiben? Oder zumindest bis an die Grenzen dessen gehen, was der Zuschauer sich zumuten wird? Ich glaube nein. Denn das, was wir uns da heutzutage reinziehen, ist im Vergleich mit früheren Generationen – so meine Theorie – nicht mehr oder weniger avantgardistisch als damals.

Während seinerzeit Frauen in Badeanzügen eine Sehenswürdigkeit waren, die die Menschen vor die Geräte oder ins Freie lockte, so sind das heutzutage eben Menschen, die sich im Dschungel zum Affen machen. Während damals im Fernsehen die Aufklärung eines Verbrechens spannender war als das Verbrechen selbst, lebt die Geschichte heute eben davon, dass sich am Ende herausstellt, wer der wirkliche Bösewicht war.

Geschockt wurde schon immer. Da sich die Zeiten ändern und mit ihnen die Menschen, wird es aber wohl immer etwas anderes sein, das uns vor die Geräte zieht. Früher war es nackte Haut, heute sind es Blut und rote Matsche, wer weiß, worauf wir morgen abfahren?

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