Nichts bleibt, wie es ist: ein Grund zur Trauer

Ein kleines Segelboot am Horizont eines unüberschaubaren, nebligen Meers

Achtung: Hier geht es um Suizid und Depressionen. Falls du dich gerade nicht gut fühlst, solltest du diesen Beitrag lieber überspringen. Falls du Hilfe brauchst, klicke jetzt hier

Diesen Blogeintrag habe ich vor etwa fünf Jahren angefangen. Seitdem wartete er halb fertig in den Entwürfen auf den richtigen Moment für die Veröffentlichung. Jetzt, so viel später, stelle ich fest, dass es für dieses Thema einfach nie den richtigen Moment gibt. Da Tod und Trauer aber vor keinem Menschen Halt machen und uns immer begleiten, will ich ihn trotzdem veröffentlichen. Und dann eben zu einem falschen Moment. 


Nichts bleibt, wie es ist.

Keine große Weisheit, aber wenn einmal überraschend etwas nicht so bleibt, wie es vorher war, dann wirft einen das aus der Bahn. Neulich hat sich ein Freund das Leben genommen.

Nun sitze ich hier, überlege, wie ich das in Worte fassen könnte, und scheitere. Vielleicht ist es einfach zu groß für einen Blogeintrag. Vielleicht sollte ich auch gar nicht öffentlich darüber berichten, denn ihr kanntet ihn ja sowieso nicht.

Ich war gerade in der Mittagspause und kam aus dem Supermarkt, da erhielt ich per Kurznachricht den Hinweis über seinen Tod und naja, für so etwas gibt es wohl keinen richtigen Zeitpunkt. Auch wenn mich die Nachricht anfangs nicht sehr mitgenommen hat, bin ich doch nach Hause gegangen. Das war auch gut so, denn manche Dinge kommen langsam und treten erst später richtig zu.

Man fragt sich dann ja auch wirre Sachen. Wie: „Hätte ich… dann wäre er…“ Oder: „Falls ich… dann würde er vielleicht…“ Nur, um sich hinterher gleich zu korrigieren, dass man für Entscheidungen anderer Menschen keine Verantwortung trägt. „Aber“, kommt dann die Stimme aus dem Hirn wieder, „hättest du… dann könnte…“. So geht es immer weiter.

Aber ich will mich gar nicht beklagen. Für mich war er nur ein guter Freund. Für andere war er viel mehr, nämlich ein starker Bruder und liebevoller Onkel: Seine Familie nimmt das noch viel mehr mit als mich.

Mein Freund hatte Depressionen. Ich weiß, wie das ist, keinen Ausweg zu sehen und am Ende nur noch eine einzige Lösung im Kopf zu haben. Diese Vorstellung, dass das eine gute Idee sein könnte, dieser Fehlschluss, der wird einem von der Krankheit heimlich, leise und stetig ins Ohr geflüstert. Und dabei wirkt es dann, als hätte man einen völlig rationalen Entschluss getroffen, der obendrein gut abgewogen und absolut schlüssig erscheint. Der ganz normale nächste Schritt einer Abfolge von Dingen eben.

Dabei ist es genau das Gegenteil. Jeder wirklich rational denkende Mensch würde die Hände über dem Kopf zusammen schlagen. Das ist der Kern von Depressionen: Aus der Innenansicht erscheint das alles ganz logisch. Ich fühle mich einsam? Natürlich, so muss es ja sein, ich habe es nicht anders verdient. Ich bekomme normale Tätigkeiten nicht mehr auf die Kette? Klar, ich bin ja auch schwach, ein Nichts. Ich habe meine Freunde und Familie verstoßen? Sicher, die sind ja auch unfair oder verstehen mich nicht, ihnen ist nicht mehr zu trauen.

Wie absurd und falsch diese Gedanken sind, das können nur Außenstehende sehen. Nach vielen Therapien und Lerneinheiten ist es darum meine bisher beste Leistung, mich in diesem Zustand selbst als Außenstehender zu betrachten. Dabei stelle ich mich gedanklich neben mich selbst und schaue mich an. Wie ich da in meiner eigenen Suppe aus schwarzen Gedanken liege. Und frage mich, ob das denn richtig sein kann. Ob das Gefühl, das ich in diesen Tagen, Wochen oder Monaten habe, logisch zu den Jahrzehnten meines restlichen Lebens passt. Ich denke an die vielen guten Gefühle, die ich zwar gerade nicht mehr fühle, an die ich mich aber erinnern kann. Ich frage mich, ob diese kürzliche Änderung in meinen Ansichten nicht etwas zu bizarr ist, selbst bei einem so langen Zeitraum. Und ob es nicht vielleicht sein kann, dass ich gerade überreagiere.

Dieser Prozess ist sehr anstrengend. Ich habe es auch noch nie geschafft, diese Badewanne voller schwarzer Brühe um mich herum völlig abzulassen. Aber ich habe jedes Mal wenigstens etwas frisches Wasser nachgefüllt und das Zeug verdünnt. Zweifel in mir selbst gesät. Und das reichte immer aus, mir am Ende zu sagen „okay, heute nicht. Vielleicht an einem anderen Tag. Aber heute probiere ich nochmal etwas anderes“. Ein Lebensretter.

Und genau das hat bei meinem Freund offenbar nicht geklappt. Wer weiß, vielleicht hatte er ganz andere Mechanismen, jeder Mensch tickt anders. Aber ich hätte es gerne mit ihm probiert.

Was bleibt mir stattdessen? Andenken, die ich zu Hause bisweilen beim Aufräumen finde und die mich innehalten lassen. Ein unförmiges Metallkunstwerk aus seiner Therapie. Fotos, auf denen wir alle lächeln. Viele Erinnerungen, zum Beispiel an einen durchquatschten Heiligabend zu zweit bei Burger King mit viel zu viel Kaffee. Und ein Handykontakt, den ich mich bislang weigere, zu löschen. Allem voran: Der bohrende Gedanke, ich hätte doch… dann könnte er vielleicht…


Mittlerweile habe ich sein Grab ein paar Mal besucht. Ein kleines, unscheinbares Urnengrab, man muss wissen, wo man danach suchen muss.

Lieber M., es tut mir leid, dass ich nicht so für dich da war, wie du es vorher für mich warst. Aber du hast mich auch angelogen. Du hast immer gesagt, du hättest keine Badewanne und keine schwarze Suppe. Du hast dich als Kämpfer inszeniert, dabei stimmte das irgendwann ja wohl gar nicht mehr. War das ein letztes „ihr könnt mich alle“? Dann lass dir sagen: Chapeau, du hast nicht nur mich so weit weg, sondern auch deinen ganzen Freundeskreis in deiner Stadt samt Familie verarscht. Wärst du noch hier, du bekämst dafür eine Ohrfeige von mir. Und danach würde ich dich ganz fest in den Arm nehmen. 

Hoffentlich geht es dir gut im großen Nichts.

Und deinen Handykontakt habe ich immer noch. 

6 Kommentare

  1. Lieber Thomas.
    Zunächst ist mir einfach danach: (( )), und hoffe, Du empfindest das – virtuell – nicht übergriffig. Wir sind uns bisher nicht (persönlich) begegnet. Lernen uns gerade erst kennen. Dennoch bewegen mich Deine Zeilen.
    Wenn ich in meinem Leben zurückblicke, war ich schon zu oft mit dem Tod von Freunden, Bekannten, Kolleg:innen konfrontiert. Ich bin dankbar, dass ich – bestenfalls mit den Beteiligten, oder/und mit engen Freunden – stets einen Weg fand, darüber zu reden. Anteil nehmen. In einem geschützten Raum über unsere Gefühle sprechen – ohne Befindlichkeiten, ehrlich, offen, getragen von Liebe und Menschlichkeit. Gemeinsam fanden wir ein gutes Maß zwischen zu wenig und zu viel. Zumindest so, wie ich es gebraucht habe und mir nach meinen Bedürfnissen nehmen konnte. Umgedreht versuche ich, Freunden das Gefühl zu geben, sie können mit dem Thema „Tod“ stets zu mir kommen. Das eigentliche Problem ist das Schweigen, das Ignorieren, das Tabuisieren. Daher: Danke, dass Du den Beitrag nicht nur für Dich geschrieben, sondern auch veröffentlicht hast.
    Was ich am Austausch in diesen geschützten Räumen heilsam für mich empfand, war, dass es mir eröffnete, mich meiner Trauer zu stellen. Trauer hat bekanntlich verschiedene Phasen. Du beschreibst oben zum Beispiel die Phase der Wut. Eines jedoch habe ich gelernt: Es ist wichtig, Trauer zuzulassen. Je mehr Du versuchst, sie zu ignorieren, desto eher springt sie Dich dann an, wenn Du es überhaupt nicht gebrauchen kannst. (Etwas, das vor allem in Gruppen für ein gutes Miteinander und Führen mit Sinn wesentlich ist. Leider wird Trauer insbesondere im beruflichen Alltag viel zu oft ausgeblendet. Beziehungsweise versucht, auszublenden.)
    Noch heute führe ich „Zwiegespräche“ mit Menschen, die für meine Entwicklung wichtig waren. Das findet alles in meiner Vorstellung statt. Und doch hat es etwas Wahrhaftiges, Existenzielles. Das akzeptiere ich. Gleichwohl bin ich froh, dass es über die Zeit nicht mehr weh tut. Wie lang dieser Abschied dauert, ist unterschiedlich. Bei mir waren es in fast allen Fällen Jahre. Wie sagte ein Freund zu mir: „Das Gras wächst nicht schneller, nur weil ich daran ziehe.“ So ist es auch hier. Im Vertrauen darauf, dass es mir gut gehen kann, ist es leichter, loszulassen. Sicher hilft mir, nicht nur einen wichtigen, geliebten Menschen an den Tod verloren zu haben. (Je älter wir werden, desto öfter werden wir wohl leider mit der Endlichkeit des Lebens konfrontiert.) Es hört sich vielleicht herzlos an, doch die Lebenserfahrung hilft uns, mit der Vergänglichkeit umzugehen, wenn wir es „üben“.
    Am schönsten formulieren es die Philosophen, wenn sie sagen: im Bewusstsein unserer Sterblichkeit erheben uns unsere Erwartungen und geben unserem Leben einen Sinn. Mögen wir daraus abgeleitet, den Mut finden, nach diesem Sinn zu leben und unsere Zukünfte zu gestalten.
    Danke fürs Teilen. Herzlich,
    Franziska

    1. Liebe Franziska,

      danke für deinen langen Kommentar. Dieses Erlebnis ist zwar mittlerweile schon einige Jahre her, aber es bleibt natürlich eine kleine Narbe übrig. Wie ich schrieb, ich war ja nur irgendein Freund, seine Familie wird das alles viel mehr belastet haben oder sogar noch belasten. Er war ein toller Mensch.

      Ich beschäftige mich schon seit der Kindheit mit dem Tod und habe eher „versehentlich“ die Zurückhaltung vor dem Thema verloren oder sie gar nicht erst erlernt. Darum passiert es mir manchmal, dass ich darüber so entspannt spreche wie über den nächsten Einkauf, und erst viel zu spät merke, wie die andere Person verdattert und etwas vor den Kopf gestoßen ist. Natürlich belastet es auch mich, wenn ein Tod mir nahe geht wie der oben beschriebene, und dann muss ich damit erstmal umgehen lernen. Generell finde ich aber, dass wir alle viel zu wenig darüber sprechen oder auch nachdenken. Allein schon was die eigene Vorsorge und die der Familienmitglieder angeht.

      Schön finde ich den philosophischen Gedanken. Man könnte ihn als Drohung oder Warnung formulieren, aber so ist er ja gar nicht gemeint. Ich nehme mir das jetzt auch nochmal neu vor. Danke dafür!

      Viele Grüße
      Thomas

  2. Ein guter Text Thomas. Kann da aber zu diesem Zeitpunkt nicht genauer drauf eingehen weil es in mir Gefühle, & Flashbacks weckt wenn ich mich da tiefer rein denke. Habe mir den Beitrag aber mal gespeichert weil ich später gerne noch was dazu schreiben würde.

    1. Alles gut, Rio. Das ist auch harter Tobak, mich nimmt es beim Lesen auch immer wieder etwas mit. Man sollte sich mit diesen Themen auseinandersetzen, finde ich, aber auf jeden Fall nur dann, wenn es gerade emotional passt.

      Meine nächsten Beiträge werden auch wieder etwas leichter.

  3. Danke für diesen Blogbeitrag!
    Ich fand damals schrecklich, dass sich die Suizidgedanken *wie eine gute Idee* anfühlten.

    Einmal, als es mir mal schlecht ging, bekam ich Angst, dass die Depression wiederkommen könne. Da habe ich abgeprüft, ob meine Gefühle zur Situation gepasst haben und stellte fest: Ich hatte schlicht und ergreifend einen beschissenen Tag und da waren die Gefühle total angebracht! Die Erkenntnis fand ich so befreiend, dass es mir gleich wieder besser ging … 🙂

    1. Super, dass du das erkannt hast! Ich halte es auch für eine der größten Errungenschaften aus der schlimmen Zeit, feststellen zu können, wenn ich einfach nur einen schlechten Tag habe. Oder vielleicht zwei. Dagegen was zu machen, ist dann sogar relativ leicht (bei mir helfen dann wirklich die sonst so bescheuerten Tipps wie „geh doch mal spazieren“ und „schlaf dich mal aus“).

      Alles, wodurch die Krankheit etwas an Grusel verliert, ist gut. Denn eine Depression ist auch „nur“ eine ganz normale Krankheit, die wie viele andere zwar tödlich enden kann, aber gut behandelbar ist. Man darf nur keine Angst davor haben 😉

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