Verrücktheit

Fühlst du dich manchmal anders? Besonders? Nicht gesellschaftskonform? Dann bist du völlig normal.

Was ist denn schon Verrücktheit? Ich google das jetzt absichtlich nicht und wage die wenig mutige These, dass Verrücktheit bzw. als Gegenteil die Normalität in jedem Menschen anders aussieht. Wie hat es wohl auf die Gesellschaft gewirkt, als der erste Mensch verkündete, die Erde sei nicht flach, sondern rund?

Das ist, als würde ich jetzt behaupten, das Universum dehne sich nur aus, um nach einiger Zeit wieder in sich zusammen zu fallen und nach einem neuen Urknall den ganzen Spaß von vorne zu beginnen. Das wirkt unsinnig, obgleich diese Theorie gar nicht neu ist und das Gegenteil kann auch niemand mit Sicherheit beweisen. „Unfug“, sagt man da trotzdem leicht, „wir wissen es doch besser.“ Natürlich… Aber das dachten sie damals auch. Die Erde soll eine Kugel sein, was für ein Schwachsinn. Der, der das behauptet, ist verrückt.

Über Normalität habe ich mir in meinem Leben bisher schon oft Gedanken gemacht: In der Schule machten sie früher alle gerne Sport, ich hasste Sport. Jahre später ging am Wochenende jeder in die Disco, ich habe daran nie den Spaß entdecken können. Und Mädchen… herrje, die waren auf bestimmte Art und Weise schon immer ein Buch mit sieben Siegeln.

Das Ergebnis meiner jahrelangen Überlegungen ist, dass alles anders ist. Niemand ist gleich. Das gilt im Kleinen wie im Großen: Der eine mag lieber Nutella, der andere steht auf Nusspli. Der eine steht auf Männer, der andere auf Frauen. Der eine isst für sein Leben gern Pizza, der andere Nudeln. Auf der Erde ist Leben möglich, auf dem Jupiter nicht.

Ist das nicht klasse?! Wie ungeheuer langweilig wäre eine Welt, in der sich alle gleich verhalten und gleich denken würden! Des Einen Verrücktheit ist des Anderen Normalität. Wer schon mal „Numb3rs“ (Wikipedia) im Fernsehen gesehen hat, weiß, was ich meine: Da lösen weltfremde Mathematiker anhand von Gleichungen und Formelsystemen Kriminalfälle, an denen sich die Polizei die Zähne ausbeißt. In ihrem Räumen hängen Tafeln, vollgekritzelt mit Zahlen und Zeichen, die kein Mensch versteht. Außer natürlich, einer dieser Wissenschaftler trifft einen anderen, dann reicht ein einziger Blick darauf. Völlig bescheuert und weltfremd. Jedenfalls für mich.

Wenn ich also wieder einmal nicht nachvollziehen kann, wie sich an Karneval wildfremde, bunt kostümierte Menschen in einer zum Bersten gefüllten Bar reihum singend in den Armen liegen, dann denke ich daran, dass diese Welt verrückt ist. Und dass das jeder jedem gönnen sollte – auch und gerade dann, wenn man es manchmal eben nicht versteht.

Denn Anderssein ist Normalität.

5 Millionen Euro

Plötzlich fünf Millionen Euro haben. Wer hat davon noch nicht geträumt? Oder sogar mehr! 20 Millionen. Hundert. Ich male mir aus, wie sich bei fünf Millionen Euro mein Leben verändern würde. In der Größenordnung muss man nämlich noch aufpassen, was man mit dem Geld anfängt. Auf geht’s…


„Eine Flasche Ihres besten Champagners!“, weise ich die junge Kellnerin an. Ihre Gesichtszüge entgleiten ihr nur ganz kurz angesichts der Tatsache, dass es gerade erst Mittag ist und ich nicht so aussehe, als würde ich solche Bestellungen häufiger aufgeben. Sie fängt sich aber schnell wieder, nickt nur und verlässt unseren Tisch.
„So wollte ich schon immer mal bestellen! Ist mir egal, ob sie überhaupt Champagner haben. Vielleicht gibt’s auch nur Sekt“, denke ich nach, „aber Hauptsache ist, dass wir anstoßen können!“

Mein bester Freund Tobias und ich, Mark, sitzen in einem kleinen Café in der Innenstadt. Es ist ein sonniger Donnerstag Mitte November, draußen in der Fußgängerzone herrscht eifrige Geschäftigkeit.
„Und das ist alles wirklich kein Scherz?“ Tobias kann es offenbar immer noch nicht fassen.
„Natürlich nicht! Schau hier“, sage ich und lege einen Zettel vor ihn auf den Tisch, „siehst du hier oben das Logo von Westlotto? Und hier unten den Betrag, den sie mir ausgezahlt haben? Und mit „ausgezahlt“ meine ich „ausgezahlt“. Das Geld ist bereits auf meinem Konto. So richtig. Mit ganz vielen Nullen.“
Tobias betrachtet erst den Zettel, dann runzelt er die Stirn. „Ist mir egal, was da steht, noch will es nicht in meinen Schädel. Aber jetzt erzähl mal, wie war es denn am Montag?“
„Eigentlich ist sogar schon seit Samstag alles komplett surreal, ein bisschen wie im Traum“, beginne ich.

„Du erinnerst dich doch noch, dass ich dich Samstagnachmittag anrief. Ich war etwas aufgeregt.“
Tobias lächelt. „Etwas aufgeregt? Du hast fast hyperventiliert.“
„So schlimm kann das gar nicht gewesen sein, ich hatte schließlich schon eine gute Viertelstunde in eine Plastiktüte geatmet. Jedenfalls hatte ich da ja gerade die Ziehung der Lottozahlen gecheckt und festgestellt, dass ich wohl ne Menge Geld gewonnen hatte. Nach unserem Telefonat, danke für die Beruhigung übrigens, informierte ich mich und fand heraus, dass ich das Geld nicht in dem kleinen Bahnhofsbüdchen abholen konnte. Weißt du, da, wo ich immer meine Lose kaufe. Ha, so viel Geld haben die ja auch nicht einfach in ihrer Kasse. Ich musste zu Westlotto in Münster fahren. Aber das war mir recht, bald habe ich ja auch eh meinen eigenen Chauffeur.“
„Jetzt übertreib mal nicht.“
„Wie auch immer… Montag meldete ich mich im Büro erst mal krank. Wenn die was dagegen haben, kaufe ich den ganzen Laden und kündige jedem.“
„Wie Dagobert Duck das immer macht?“
„Ganz genau. Bis Montag hatte ich also Zeit, zwei volle Nächte lang wach im Bett zu liegen und mir zu überlegen, was ich mit der Kohle anfangen möchte. Zu einem vernünftigen Ergebnis kam ich allerdings nicht.“

„Ihr Champagner“, lächelt uns die Kellnerin an, jetzt wieder ganz gefasst. Sie stellt zwei Gläser auf den Tisch, schenkt ein und vergräbt die Flasche im Eis des Sektkühlers, den sie mitgebracht hat.
Mit einem Blick auf das Etikett stelle ich fest: „Sie haben es tatsächlich fertig gebracht, uns einen Champagner zu besorgen?“
Sie zwinkert mir im Gehen zu: „Der nächste Supermarkt ist gleich um die Ecke.“ Ob das ein Scherz sein soll oder tatsächlich die Wahrheit ist, kann ich nicht sagen. Irgendwie ist mir die junge Frau sympathisch.
„Also dann, Mark“, beginnt Tobias und hebt sein Glas, „auf das neue Leben, auf das Geld und vor allem auf das Normalbleiben. Prost!“
„Prost“, wiederhole ich und wir stoßen an.

„Lecker. Auch wenn ich keinen Unterschied schmecken kann. Was soll’s. Ich fuhr also am Montag nach Münster. Die Nacht hatte ich dann sogar doch ein paar Stunden geschlafen. Bei Westlotto waren sie wirklich ziemlich nett. Gut, die haben dort ja auch ne Menge Geld zu verschenken. Was für ein angenehmer Job das sein muss, ständig mit Geld um sich zu werfen und nur lauter glückliche Kunden zu haben! Als sie mir mitteilten, dass ich fünf Millionen Euro gewonnen hätte, musste ich mich erst mal irgendwo hinsetzen. Mit einem Gläschen Schampus und ein bisschen gutem Zureden konnten sie mich aber schnell wieder beruhigen.“
„Heben die mit jedem ihrer Gäste erst mal einen? Dann müssen das ja alles Alkoholiker sein.“
„Du hast vielleicht Ideen… keine Ahnung! Die Formalitäten waren jedenfalls gar nicht so aufwändig wie ich gedacht hatte. Ein paar Kreuzchen hier, ein paar Unterschriften da, natürlich meine Kontonummer – Gott, die habe ich wirklich oft kontrolliert und auch von den Mitarbeitern dort noch einmal vergleichen lassen. Ach, und dann wollten sie natürlich auch mein Los sehen. Es soll Leute geben, die vor lauter Aufregung vergessen, das mitzubringen.“
„Ohje. Und dann?“
„Das ist wie im Theater: Keine Eintrittskarte, kein Spaß. Aber so dumm war ich natürlich nicht.“
„Haha, gib es doch zu, du hast dich von deinem Handy dran erinnern lassen.“
„Du bist ein Blödmann. Ich wollte halt auf Nummer sicher gehen!“
„Hätte ich ja auch gemacht. Und dann, nach den paar Unterschriften, war es das?“
„Jepp. Sie beglückwünschten mich alle, gaben mir noch ein paar Papiere mit, zum Beispiel diesen Auszahlungszettel. Und natürlich einige Prospekte mit Hinweisen für mein zukünftiges Verhalten und ein paar Ansprechpartnern.“
„Was für ein zukünftiges Verhalten denn?“
„Denk doch mal nach. Wenn ich jedem erzählen würde, dass ich von Jetzt auf Gleich stinkreich geworden bin, hätte ich plötzlich viel mehr Freunde. Und eine ganze Menge neue Probleme.“
„Ach so, klar. Ja weißt du, mir passiert das nicht so häufig. Und die Ansprechpartner?“
„Das ist so eine Tabelle mit Leuten, die mir helfen können. Vom Anlageberater bis zum Therapeuten ist alles dabei. Ein bisschen übertrieben, wenn du mich fragst, aber wahrscheinlich müssen die mir so eine Liste geben. Oder sie haben wirklich schlechte Erfahrungen gemacht. Letztens habe ich eine Gesprächsrunde im Fernsehen gesehen, da ging es um Lotteriegewinner. Zehn Gewinner waren eingeladen, jeder hatte mindestens eine Million Euro gewonnen. Das krasse war, dass nur ein einziger von denen immer noch reich war, die anderen waren alle ärmer als vorher. Was ist das denn bitte für ein schlechter Schnitt?!“
„90 Prozent Rückfallquote sozusagen… das ist wirklich viel. Und wie willst du dafür sorgen, dass du nicht irgendwann dazu zählst sondern reich bleibst?“
„Das, mein lieber Tobias, ist deine Aufgabe.“

Tobias sieht mich mit großen Augen an. Plötzlich steht die Kellnerin an unserem Tisch. „Kann ich Ihnen noch etwas bringen?“
„Wir hätten gern irgendwas Kleines zu Essen, ein paar belegte Brötchen zum Beispiel. Haben Sie so was?“ Ich mustere sie interessiert, Tobias schaut mich währenddessen verdattert an.
„Natürlich. Sonst noch etwas?“
„Deine Nummer?“ Zugegeben, der Versuch ist ziemlich plump und selbst mein charmantestes Lächeln verfängt offenbar nicht.
„Die steht später auf der Quittung.“ Sie gibt mir ein professionelles Kellnerlächeln und rauscht davon.

„Mark? Was ist bitte meine Aufgabe?!“ Tobias hat seine Sprache wiedergefunden.
„Ich habe doch keine Ahnung von Finanzen. Und du als Zahlendreher…“
„Bitte?!“
„Ach, wie auch immer sich das schimpft.“
„Das ist ein so gut wie abgeschlossenes BWL-Studium!“
„Ich bezahle dich natürlich auch für deine Dienste.“
„Das kannst du dir nicht leisten.“
„Das allerdings bezweifle ich. Tobias, ehrlich, ich brauche jemanden, der mir sagt, was ich mit der Knete anfangen soll. Du selbst hast gesagt, es steht neun zu eins, dass ich am Ende ärmer bin als vor dem Gewinn.“
„Geht das überhaupt?“
„Also ja oder nein?“
„Natürlich ja, mein Lieber. Aber wir brauchen feste Regeln. Wenn du zum Beispiel zum neureichen Arschloch mutierst, steige ich aus.“
Ich verziehe das Gesicht. „Na vielen Dank für den Hinweis.“
„Ich meine das ernst. Du weißt doch: Bei Geld hört die Freundschaft auf.“
„Hast ja Recht“, lenke ich ein. „Wir könnten einen echten Vertrag machen, dann sind wir beide abgesichert. Aber lass uns das später klären. Jetzt freu ich mich erst mal, dass du mir hilfst. Stößchen?“
„Stößchen!“
Wir prosten uns noch einmal zu und genießen danach einen Moment den ganz bestimmt sündhaft teuren Champagner. Doch dann müssen wir gleichzeitig lachen.
„Als ob wir eine Ahnung von Champagner hätten!“ Tobias nimmt die Flasche und versucht, das Etikett zu lesen. „Ich kann kein Französisch.“
„Ist doch auch egal. Hauptsache lecker. Mein Gott, muss ich mir jetzt all das Wissen über „im Abgang nussig“ und „au contraire, monsieur“ aneignen, damit ich mich in der High Society bewegen kann?“

In diesem Moment öffnet sich die Tür des Cafés und wie aufs Stichwort stöckelt eine übermäßig mit Gold behangene Pelztussi in den Laden. Etwas angewidert schiebt sie mit weiß behandschuhter Hand ihre Gucci-Sonnenbrille hinunter, um das Etablissement zu mustern. Als sie unsere Champagnerflasche erblickt, hellt sich ihr Gesicht kurz auf, doch die Tatsache, dass solche Leute wie wir ihn trinken, macht den Eindruck offensichtlich wieder zunichte. Mit kleinen Schritten nähert sie sich der Bar und achtet dabei penibel darauf, bloß nichts zu berühren. Die Kellnerin bereitet hinter dem Tresen unsere Brötchen zu, hält aber jetzt inne und beobachtet mit mühsam unterdrücktem Lächeln, wie Mrs. Armani durch das Labyrinth aus Tischen und Stühlen vorsichtig auf sie zu trippelt.
Tobias strahlt mich an. „Ach, SO willst du also werden?“
„Danke, ich hab es mir gerade anders überlegt.“
Die modische Dame hat ihr Ziel erreicht und spricht mit der Kellnerin – natürlich ohne den Tresen zu berühren.
„Warum denn?“ Tobias gefällt seine Idee. „Wir könnten dich rausputzen, du darfst sogar ein Mann bleiben. Nur Mark passt dann nicht mehr, wir brauchen einen teuren Vornamen. Und natürlich musst du dauernd Dinge sagen wie „ach Gott, das ist aber süß“ und „neeeein, ich glaube es gerade nicht“. Außerdem musst du schwer an dir arbeiten, was deine Affektiertheit anbetrifft. Und du brauchst auf jeden Fall ein glitzerndes Täschchen und ein kleines Hündchen…“
„Du kannst deine Verniedlichungen für dich behalten. Ehe ich so werde, bleibe ich lieber pleite. Außerdem ist das kein reicher Typ, den du da beschrieben hast, sondern eine ganz schlimme Tucke.“
„Wie schaaaaade.“ Tobias spielt den Traurigen. „An dir ist ein sagenhafter Glamourmillionär verloren gegangen.“
Mittlerweile hat Madame Steinreich ihr Anliegen offenbar vorgebracht und sucht sich einen möglichst berührungsfreien Weg durch das Café in Richtung der Toiletten – ach, deshalb ist sie also hier. Wir teilen unterdessen den Rest aus der Flasche und wollen gerade mit ernsthaften Überlegungen für meine Zukunft beginnen, als die Kellnerin gekonnt einen großen Teller mit belegten Brötchenhälften auf unserem Tisch platziert.

„Die Herren haben ja einen ganz schönen Zug am Leib“, sagt sie leise, mehr zu sich als zu uns, aber laut genug, dass wir es hören können. Sie mustert die leere Flasche und wendet sich dann uns zu: „Soll ich noch mal zum Supermarkt gehen?“
Aber ich hatte genug Alkohol für diesen Tag. „Nein danke, wir hätten jetzt gerne… Tobias, was schlägst du vor?“
„Wie wäre es mit zwei Latte Macchiato, so ganz der Uhrzeit angemessen?“
Unsere Bedienung scheint angesichts der so normalen Bestellung fast schon etwas enttäuscht zu sein. „Sofort.“ Sie räumt die Gläser und den Sektkühler samt Flasche ab.
Ich lehne mich erwartungsvoll nach vorne. „Also, Tobias, womit fangen wir an?“

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