Der Shitstorm

Es gibt viele Facetten bei der Kommunikation über das Internet. Eine, die besonders hervor sticht, ist der Shitstorm. Ein Wort, das alles über diesen Aspekt menschlichen Zusammenseins aussagt.

Auf Twitter bekomme ich hin und wieder den einen oder anderen Scheiße-Sturm mit und bin jedes Mal aufs Neue verwundert, was für eine Eigendynamik sich praktisch aus dem Nichts entwickelt. Da gibt ein Mensch oder eine Institution jemandem Grund zu Ärger und dieser Jemand veröffentlicht das: Mit der Aktion möchte der Betroffene zuallererst seinem Groll Luft machen, freut sich aber auch, wenn er Gleichdenkende findet, die auf den Zug aufspringen. Aus einer simplen „du bist doof – du aber mehr“-Situation wird eine Schlacht, die wie ein Lauffeuer um sich greift und innerhalb weniger Minuten ganze Scharen an Anhängern mobilisieren kann.

Ein Schneeballsystem? Fast. Der Unterschied ist eklatant: Beim Schneeballsystem beziehen sich die jeweiligen Initiatoren nur auf die Elemente unter ihnen, jeder bleibt für sich gesehen in einer Zweier- oder kleinen Mehrerbeziehung. Der Shitstorm breitet sich zwar wie ein Schneeballsystem aus, aber alle Beteiligten konzentrieren sich auf den ursprünglichen Kampfkern: auf die beiden Kontrahenten und insbesondere auf den, der als Bösewicht dargestellt wird. In der Phase dieses Multi-Bashings auf einen Einzelnen bzw. eine Institution hat meines Empfindens der Shitstorm die Kriterien handfesten Mobbings erfüllt.

Aber: Ähnlich schnell, wie er gekommen ist, kann der Shitstorm auch verfliegen. Insbesondere der Attackierte kann sich die Wunden lecken und nach einer Weile ist alles wie vorher, die Wogen haben sich geglättet. Falls Firmen Ziel einer solchen Animositätenwelle werden, müssen sie Marketinggeschick beweisen. Denn wenn sie mit dem öffentlichen Ärger ihrer Kunden nicht richtig umgehen, ebbt die Flut an Wutbekundungen vorerst nicht ab und aus dem Shitstorm kann ein „Shit-Hurricane“ werden. Das kann so weit gehen, dass auch die Öffentlichkeit, die Presse und der Staat Notiz nehmen und mitmischen. Privatpersonen trifft so eine Anti-Kampagne meines Erachtens schlimmer, da hier ein echter, mehr oder weniger persönlich bekannter Mensch zur Zielscheibe wird und nicht zum Beispiel die Marketingabteilung eines Großunternehmens.

Die sich selbst verstärkenden Hasstiraden mit Eigenantrieb lassen mich immer überlegen: Was sagt das denn über die Menschheit aus; sagt es überhaupt etwas aus? „Alle auf den Schwächeren“? Nein, er ist nicht immer der Schwächere. „Alle auf den, der durch ein bestimmtes Fehlverhalten negative Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat“? Vielleicht schon eher. Hier sollte man aber trennen: Da gibt es diejenigen verhaltensauffälligen Gestalten, die sich durch ein Aufmerksamkeitsdefizitsproblem über jede Art von Rampenlicht freuen und sich vielleicht sogar absichtlich in das Auge des Sturms manövrieren (das gilt übrigens auch für Firmen und insbesondere für kleingeistige Parolenklopfer, für die ich gar kein Verständnis aufbringe). Hier wäre es wohl am besten, die Situation gar nicht hochkochen zu lassen, denn das ist genau die Intention hinter diesem Verhalten.

In jedem Fall machen mich diese Ereignisse jedes Mal betreten, auch wenn jemand ein Ärgernis mit der ausdrücklichen Bitte um einen Shitstorm veröffentlicht, woraus oft nichts wird. Denn ob das massenhafte Draufhauen ohne vorherige Recherche nun – nach welchen Maßstäben auch immer – gerechtfertig ist oder nicht, es ist und bleibt eine der dunkleren Gassen des vielverzweigten Dörfchens Internet.

Träumen

Träumen.

Was für ein schöner Begriff. Wer hat noch nie aus dem Fenster geschaut und seinen Gedanken nachgehangen? Man blickt auf einen Baum oder eine Straße, sieht aber eigentlich gar nicht dorthin, sondern in sich hinein. Wenn ich ins Tagträumen verfalle, merke ich das normalerweise anfangs gar nicht. Irgendwann fällt mir dann auf, dass ich vielleicht sogar jemanden ansehe, ohne es zu realisieren. Einmal habe ich tatsächlich eine ganze Weile einer Frau in den Ausschnitt gestarrt, aber es hat sich zum Glück niemand beschwert.

Wenn andere träumen, schaue ich gern dabei zu. In dem Moment sind die Menschen so dermaßen abwesend, dass sich die Gesichtszüge entspannen. Es ist ein bisschen wie Schlafen mit offenen Augen. Ich frage mich dann oft, wo derjenige wohl gerade ist und was er erlebt. Denkt er an frühere Zeiten, die Kindheit, das gestrige Fußballspiel? Oder an die Zukunft, den Partner, die Affäre? Oft sind es dann aber doch die ganz kleinen Dinge: Das Computerspiel, eine bestimmte Situation in der nahen Vergangenheit oder der Gedanke an einen lieben Menschen.

Was auch immer von demjenigen gerade Besitz ergreift, es ist in der Regel gutartig. Und so störe ich den Träumer nicht, sondern erfreue mich an diesem Bild. Schön, wie der Körper sich ab und zu kleine Auszeiten und Loslösungen nimmt.

Ballonfahrt

Die Sonne schien, über mir leuchtete ein stahlblauer Himmel, ganz ohne Wolken. Auf dem Weg zum Auto hörte ich die Grillen zirpen und sah, wie die Luft über dem Asphalt flimmerte. Ein idealer Tag für einen Ballonflug… ich würde es also wirklich tun. Ich hatte nur Gutes gehört und war sehr neugierig: Würde es windig sein? Heiß durch die Flammen? Oder vielleicht kalt?

Etwas nervös traf ich am Abflugort ein, einer großen Wiese in der Nähe. Das Ballonteam war schon da und gerade dabei, den großen Korb auszuladen, in dem ich die nächsten Stunden verbringen würde. Der Ballon lag schon ausgebreitet auf dem Gras. Gerade starteten zwei Mitarbeiter eine große Windmaschine, die unter enormem Getöse Luft in den Ballon pustete. Etwas später wurde die Luft durch den Gasbrenner erhitzt, der nicht weniger Lärm machte, dafür mit seinen riesigen Flammen aber spektakulärer aussah. Langsam richtete der Ballon sich auf und stellte auch den Korb, der mittlerweile an ihn gekettet war, mit auf.

Nach dem Aufblasen und einiger Einführungen für den Abflug standen wir – knapp zehn Personen – im Ballonkorb und hielten uns fest. Das Wichtigste hatte ich schon gelernt: Es heißt Fahren. Man fliegt nicht mit einem Heißluftballon, man fährt. Das hat irgendetwas mit dem Antrieb und der Bewegung zu tun, ganz verstanden habe ich es nicht, weil ich während der Einführung immer auf die Mitarbeiter und den Ballon geblickt hatte. Meine Güte, war das ein riesiges Ding.

Jeden Augenblick würde er abheben… hoppla! Ein Ruck durchfuhr den Korb und schon schwebten wir in die Höhe. Der Gasbrenner gab einen ohrenbetäubenden Lärm von sich und seine Flammen züngelten direkt über unseren Köpfen in den Ballon hinein. Eigentlich war das nicht eine besonders angenehme Situation, aber ich fühlte mich komischerweise trotzdem sauwohl. Die Wiese unter uns wurde kleiner und kleiner, die Dagebliebenen winkten und riefen einige Abschiedsworte. Schon waren wir so hoch wie die Baumspitzen, kurz danach ließen wir auch die Bäume unter uns zurück. Die Abhebestelle interessierte mich nun nicht mehr, ich wandte mich der Aussicht zu und machte zuerst einmal ein paar Fotos. Wir konnten sehr weit schauen und versuchten, uns in jeder Richtung etwas zu orientieren.

Der Ballonfahrer erklärte unterdessen noch einige Verhaltensregeln und nannte auch ein paar Fakten: Unser Ballon war zum Beispiel knapp 4.000 Kubikmeter groß und konnte fast 5.000 kg tragen. Ich hatte mich vorher gefragt, ob ich wohl Angst haben würde in diesem kleinen Weidenkorb mit dem dünnen Fußboden unter einem luftgefüllten Ballon aus… was eigentlich? Seide? „Eine Ballonhülle besteht  übrigens aus Polyester oder einer Art Nylongewebe.“ Aha, das hätte mich auch nicht beruhigt, hätte ich Sorge gehabt. Aber es war ein schönes Gefühl, immernoch. Es war nicht windig oder kalt, ganz im Gegenteil: Es war genau so warm wie auf dem Erdboden, und wenn der Brenner lief, wurde es sogar richtig heiß.

Eine Weile später war im Korb die Aufregung des Starts vergangen und es kehrte eine angenehme Ruhe ein. Wir schauten still zu allen Seiten, genossen es, wenn der Gasbrenner über uns einmal keine Flammen spukte und betrachteten die Welt von oben. Zuerst schwebten wir über ein Gelände, das ich nicht kannte, nach einer Weile trieb uns die Luftströmung aber über meine Heimatstadt. Anfangs erkannte ich sie gar nicht, aber dann entdeckte ich ein markantes Hochhaus. Es war spannend, wie die Häuser, an denen ich tagtäglich vorbeifuhr, von oben aussahen.

Der geflochtene Korb, in dem wir standen, war in ein paar Segmente unterteilt, so dass wir nicht überall hin laufen konnten. Aber wir tauschten zwischendurch die Plätze so gut es ging, und so konnten wir auch zu anderen Seiten schauen und fotografieren. Ein Ballonfahrer kann übrigens den Weg des Ballons nicht beeinflussen, der Ballon fährt mit dem Wind. Deshalb scheint es da oben auch windstill zu sein. Man kann lediglich die Höhe und die Drehung ändern, weshalb ein Ballon immer Vorrang vor anderen Flugobjekten hat: Die können nämlich einfach woanders lang fliegen.

Ich blickte in die Ferne und konnte die Nachbarstadt erkennen. Auch Flüsse und Autobahnen konnte ich gut sehen. Es ist so ähnlich, wie wenn man mit einem Flugzeug abhebt: Der Moment, bevor man durch die Wolken fliegt und noch die Erde beobachten kann, nur eben etwas näher und viel leiser. „Da haben Sie sich aber ein schönes Wetter ausgesucht“, sagte unser Ballonfahrer, „wer heute nicht mit einem Ballon unterwegs ist, der hat auch keinen.“

Wir hatten mittlerweile die Stadt hinter uns gelassen und fuhren über Wiesen, Felder und Bauernhöfe hinweg. Hier und da blickte eine Kuh zu uns auf und einmal bellte ein Hund, bis wir außer Sichtweite waren. Amüsanterweise konnten wir die Gespräche der Menschen am Boden hören, wenn die Umgebung leise genug war. Der Ballonfahrer konnte es physikalisch erklären, ich fand es einfach nur witzig. „Passen Sie auf, was Sie sagen, denn dort unten versteht man Sie gut.“ Also riefen wir dem einen oder anderen Kind etwas zu und wurden sogar verstanden.

Als wir über ein großes Waldstück fuhren, schaute ich mir den Ballon etwas genauer an: Sein Innenraum war riesig, viel größer als ich es mir vorgestellt hätte. Der Brenner sah gespenstisch groß aus und machte beim Flammenwerfen wirklich gruselige Fauchgeräusche, faszinierte mich aber trotzdem ein bisschen. Außerdem gab es eine ganze Menge Kabel, Schnüre und Haken, die wir aber unter Gewaltandrohung unter keinen, wirklich gar keinen Umständen ziehen durften. Denn: Zumindest eine davon war eine Reißleine für eine „Dachluke“ im oberen Teil des Ballons. Sollte sie sich während der Fahrt unkontrolliert öffnen, würde der Ballon zwar nicht abstürzen, sich aber wesentlich zu schnell dem Boden nähern und wir würden alle verletzt. Für mich war klar: Ballonfahrer ist nicht richtige Beruf für mich.

Plötzlich tauchte im Wald vor uns eine lange Straße auf, kurz danach erblickte ich ein hohes Gebäude: Tatsächlich, wir fuhren auf den nächsten Flughafen zu. „Jetzt erleben Sie etwas besonderes“, erklärte der Fahrer, nahm sein Funkgerät und sprach mit dem Tower. Danach erfuhren wir, dass alle Flugzeuge jetzt warten mussten, bis wir in aller Seelenruhe über den Flughafen „übergesetzt“ hatten. Wir bewegten uns langsam auf ihn zu und konnten sogar von einiger Entfernung noch eine Maschine starten sehen. „Winken Sie! Die Passagiere können Sie sehen, auch wenn Sie sie nicht erkennen.“ Während der Überquerung standen alle Flugzeuge still und die zur Landung geplanten drehten eine Extrarunde. Nach ein paar Minuten war das Spiel vorbei, der Tower verabschiedete uns und nahm seinen normalen Betrieb wieder auf. So kann ich nun mit Fug und Recht behaupten, schon einmal völlig legal einen Flughafen „gesperrt“ zu haben.

Viel zu schnell war die Fahrt zu Ende. Da man Ballonfahrten aus Wettergründen immer zu Sonnenauf- und -untergang macht, würde es bald dunkel werden, und bis dahin musste alles zusammengeräumt sein. Unser Fahrer hatte bereits eine Wiese gesichtet, auf der er landen wollte. Er drückte einem Mitfahrer und mir jeweils ein dickes Seil in die Hand und sagte: „Sobald ich ‚jetzt‘ sage, klettern Sie – nur Sie beide – aus dem Korb, rennen in die Richtung, die ich Ihnen zeige, und versuchen, den Ballon auf den Boden zu ziehen. Das wird sehr schwer, weil er immer wieder in die Luft möchte.“ Okay, dachte ich, so schwer wird das schon nicht sein. Als wir etwas ruckartig auf dem Boden aufsetzten, hielten wir uns wie angewiesen an kleinen Schlaufen im Korb fest, damit wir nicht durcheinander purzelten. Dann gab es noch einen kleinen Hopser und der Korb setzte wieder auf der Wiese auf. „Jetzt! In die Richtung!“ rief der Fahrer und zeigte in Richtung eines kleinen Waldstücks. Mein Mitfahrer und ich kletterten aus dem Korb und liefen los, jeder mit seinem Seil in der Hand. Wir banden es uns um den Arm, um besser ziehen zu können und lehnten uns dann gegen den Zug des Ballons. Doch er zog uns einfach wieder zurück ins Feld, hob sich noch mehrfach ein bisschen an und jedes Mal erschreckte mich seine unglaubliche Kraft aufs Neue.

Doch unserer Fahrer hatte die besagte „Dachluke“ geöffnet und nach einiger Zeit ließ das wilde Treiben des Ballons nach. Zuerst stand er noch auf dem Feld, dann senkte er sich ab und erschlaffte schließlich mehr und mehr. Währenddessen hatte uns der Jeep, der den Ballon und alle Mitfahrer abholen würde, auch schon gefunden – modernen Peilsendern sei Dank. Also kam es nach dem angeleiteten Einpacken der über 100 Kilo schweren Ballonhülle  zum letzten Höhepunkt des Tages: der Taufe. Nach altem Recht darf nämlich ausschließlich der hohe Adel Ballon fahren. Heutzutage nimmt man darauf zwar keine Rücksicht mehr, aber dafür wird nach der Fahrt kurzerhand jeder Mitfahrer in den „Ballonadel“ erhoben. Es gab zu jedem Mitfahrer eine kleine Rede und eine Taufe, sogar mit persönlichem Namen.

Die Sonne war nun bereits unter gegangen und in der Dämmerung bestiegen wir den großen Jeep und ließen uns zurück zum Startplatz fahren. Die Fahrt über dunkle Straßen war lang, wir hatten einen Landeplatz recht weit abseits gewählt. In Gedanken befand ich mich während des Rückwegs aber noch einmal in der Luft, konnte die weit entfernten Berge sehen, rief den Kindern am Boden etwas zu, winkte dem Flugzeug und wurde vom Ballon ins Feld gezogen. Es war ein schöner Tag, den ich so bald nicht vergessen werde. Wie hatte der Ballonfahrer gesagt? „Wer heute nicht mit einem Ballon unterwegs ist, der hat auch keinen.“