Im Wartezimmer mehr über den zweiten Weltkrieg gelernt als jemals in der Schule – zum Holocaust-Gedenktag

Heute jährt sich die Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz zum 80. Mal. Zum heutigen Holocaust-Gedenktag passt folgendes Erlebnis vom letzten Juni.

Kurz vor der Europawahl 2024 hatte ich die wohl spannendste Wartezimmerunterhaltung: Aus verschiedenen Gründen war ein für den Ort überraschend vertrauensvolles und offenes Gespräch unter all den Wartenden entstanden. Irgendwann kamen wir aufs Altern und das Damals zu sprechen. Eine 82-jährige, also 1942 und damit mitten im zweiten Weltkrieg geborene Patientin, erzählte ein bisschen, oder ließ sich zumindest bereitwillig ausfragen. Vom Krieg selbst wusste sie natürlich nichts mehr, aber an das Aufwachsen in der Zeit danach konnte sie sich erinnern.

Dass es zum Beispiel in der Schule keine Schiefertafeln gab. In der Nähe war jedoch ein Unternehmen ansässig, das Plastiktafeln herstellte. Die Schule wurde damit ausgestattet und die Kinder schrieben mit Bleistift auf diese Tafeln. Hm, Bleistift auf Plastik? Heutzutage nicht allzu naheliegend, aber es war keine Zeit großer Auswahlmöglichkeiten. „Schulhefte“ hätten sie sich aus den abgeschnittenen Rändern von Zeitungsseiten zusammengeklebt.
„Der Krieg war gar kein Thema“, erklärte sie, und das verwunderte uns erst einmal. Jemand fragte, bis wohin der Geschichtsunterricht denn gereicht hätte.
„Bis kurz vor Beginn des ersten Weltkriegs.“ Seltsam, fand auch ich, wieso hörte man da auf zu erzählen, das wäre doch wichtig gewesen. Aber bei ihrem Nachschub leuchtete es mir plötzlich ein.
„Unsere Lehrer, das waren keine ganz jungen Leute. Die waren ja schon älter. Und da wusste man nicht, wie die so drauf sind.“ Vielleicht war es keine ganz blöde Entscheidung, dachte ich, lieber erstmal gar nichts beizubringen, als womöglich falsches oder stark eingefärbtes Zeug.

Wir kamen auf gesundheitliche Themen zu sprechen. Mit Blick auf das Wartezimmer sagte sie: „Eine Impfung hat es damals schon gegeben, gegen Pocken. Da gab es auch keine Diskussionen.“
„Hautcheck oder Gesundheitsvorsorge gab es nicht, oder?“
Sie lachte. „Aber nein. Wir waren ja schon froh, wenn wir Zahnpasta hatten.“
Kurzes Schweigen, in dem zumindest ich mein Bild von den Zuständen nochmals korrigieren musste.
Bis sich einer traute: „Zahnbürsten…?“
„Die gab es. Aber wir haben sie sehr viel länger benutzt als heutzutage.“
Ich bildete mir ein erleichtertes Aufatmen in der Runde ein.

Wie an den Krieg selbst, so konnte sie sich auch an ihren Vater nicht erinnern. Er fiel nämlich, als sie nur zwei Jahre alt war, und das erzählte sie mit traurigen Augen. „Mir ist erst neulich aufgefallen: Der ist dieses Jahr schon 80 Jahre tot.“

Mir brannte eine Frage unter den Nägeln und ich hoffte, nicht als nächstes aufgerufen zu werden. „Ich bin jetzt etwas über Vierzig, und ich sitze hier auch nicht ohne Grund. Mich würde interessieren: Glauben Sie, dass die jüngeren Generationen an manchen Stellen, hm, hart gesagt, zu sensibel sind? Denken Sie manchmal, dass wir uns anstellen?“
„Sie sind in einer Zeit aufgewachsen, ich in einer anderen Zeit. Und jede Zeit bringt ihre eigenen Probleme mit sich.“
Das fand ich eine sehr diplomatische, aber auch kluge Antwort. Ich hakte nach: „Nehmen wir zum Beispiel mal Depressionen. Die gab es damals doch bestimmt nicht, in großen Anführungszeichen, denn direkt nach dem Krieg ging es sicher erstmal nur darum, zu überleben?“
„Depressionen kannten wir wirklich nicht. Obwohl in jedem Haus mindestens ein-zwei Personen gestorben waren.“
„Was für eine Trauer.“
„Ja genau, in jedem Haus herrschte Trauer, das ganze Land hat getrauert. Es war so viel, da war für Depressionen kein Platz.“

Es ist wie bei den Plastiktafeln: Aus heutiger Sicht ist es schier unvorstellbar, dass für eine existenzbedrohende Krankheit wie Depressionen kein Platz sein kann. Aber wenn in einem Ausnahmezustand wie einem Krieg viele Leben nicht nur bedroht, sondern bereits beendet sind, dann tritt die Psyche vielleicht in den Hintergrund. Möglicherweise wartet sie einige Jahrzehnte oder gar Generationen auf die nötige Aufarbeitung, sagt auch die Tagesschau.

Mit Blick auf die anstehende Europawahl kamen wir auf die politische Lage zu sprechen.
„Es ist tragisch“, meinte ich, „wie schnell die Menschen vergessen, oder halt ignorieren. Immer weniger haben diesen Krieg noch selbst mitbekommen. Aber dass man hingehen kann und sagen, der zweite Weltkrieg sei nie passiert, oder versucht, Tatsachen umzudeuten oder die gleichen, menschenverachtenden Ideen wieder neu rausholt… also da merke ich, wie ich aggressiv werde. Ich will diese Leute schütteln und sie zur Vernunft bringen.“
Da bekam die ältere Dame ein trauriges Gesicht und sagte monoton: „Ja. Das kann ich auch nicht verstehen.“
Sie hat diesen Krieg nicht einmal direkt mitgemacht. Sie hat „nur“ die Konsequenzen erleben müssen, und ihr Blick sprach Bände.

Es ist eine Unterstellung, denn darüber haben wir nicht gesprochen, aber: Wir warteten hier alle auf einen Termin bei einer Psychiaterin. Vielleicht saß die Dame also wegen ihrer Kindheitserfahrungen hier. Wundern würde es mich jedenfalls nicht. Die Psychiaterin schaute kurz danach um die Ecke und sagte, sie störe unser Gespräch zwar nur ungern, aber es sei jetzt mal Zeit für den nächsten Termin…


Kaffeeringe denkt das alles im Beitrag Aus Geschichte lernen weiter und stellt die Frage, was für eine Politik Personen überzeugen kann, die die Demokratie ablehnen. Kann es überhaupt eine demokratisch gewählte Regierung geben, die sie akzeptieren? Und welche Rollen spielen andere Akteure wie zum Beispiel die Medien? Dieser Gedanke führt zu einem Zitat von Eric Kästner, das in dem Beitrag am Ende steht, und mit dem ich hier auch enden will:

„Die Ereignisse von 1933 bis 1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen. Später war es zu spät. Man darf nicht warten, bis der Freiheitskampf Landesverrat genannt wird. Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist. Man muss den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf. Sie ruht erst, wenn sie alles unter sich begraben hat. Das ist die Lehre, das ist das Fazit dessen, was uns 1933 widerfuhr. Das ist der Schluss, den wir aus unseren Erfahrungen ziehen müssen, und es ist der Schluss meiner Rede. Drohende Diktaturen lassen sich nur bekämpfen, ehe sie die Macht übernommen haben.“

– Erich Kästner, Über das Verbrennen von Büchern

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