In meinem Elternhaus hing seit jeher dieses Bild im Flur. Es war unscheinbar, nicht größer als ein Blatt Papier, war mit Ölfarbe gemalt und zeigte eine Person, die auf einer Bank saß. Die Person wandte dem Betrachter den Rücken zu und es ließ sich nicht erkennen, ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelte.
Das Bild war mir nie besonders wichtig vorgekommen. Im Gegenteil, viele Jahre meiner Kindheit beachtete ich es gar nicht. Es hing an einer Wand in der Nähe der Haustür, und obwohl ich täglich einige Male daran vorbei lief, hätte ich damals nicht sagen können, was genau darauf abgebildet war. Das Bild mit der undefinierten Person hing einfach dort an der Wand. Es wurde von einem etwas altmodischen Holzrahmen mit ein paar Schnörkeln eingefasst, nicht sehr auffällig, aber auch nicht zu zurückhaltend.
So vergingen die Jahre. Um das Bild herum wechselten die Gemälde. Eine Weile hingen dort die ersten eigenen Zeichnungen von meinen Geschwistern und mir, unsichere Wachsmalstriche, die selbst ein Kinderauge nicht zu einem aussagekräftigen Bild zusammensetzen konnte. Es folgten Werke aus dem Kunstunterricht, farbig beklebtes Papier und Versuche von dreidimensionaler Zeichnung. Sie machten später Platz für Familienfotos vom Fotografen – pickliges Lächeln, gekünsteltes Posieren, konzentriertes Geradesitzen.
Doch das Bild der unbekannten Person blieb an seinem Platz. Selbst als wir eines Tages den Flur renovierten und eine neue Tape anbrachten, war das Bild das erste, das wieder an Ort und Stelle hing. Es mag in dieser Zeit gewesen sein, ich hatte die Pubertät gerade hinter mir gelassen, dass ich zu realisieren begann, wie wir, die ganze Familie, dieses kleine Stück Papier mit Holzrand behandelten: Es gehörte irgendwie zur Familie, war und blieb, wenn auch sehr passiv, Teil unserer Geschichte.
In diesen Tagen wurde mir auch zum ersten Mal bewusst, dass die Person links auf der Bank saß und den rechten Arm auf die Lehne gelegt hatte, fast so als würde sie oder er den Betrachter einladen, sich dazu zu setzen. Dieses Detail war mir in all den Jahren nicht aufgefallen.
So stand ich einen Moment davor und überlegte, warum der Maler wohl diese Pose gewählt hatte. Als ich das Bild betrachtete, sah ich plötzlich einen Baum neben der Bank stehen. Er warf einen angenehmen Schatten auf die Bank. Gerade, als ich überlegte, welchen Sinn das haben könnte, wurde ich durch irgendetwas abgelenkt und der Gedanke verlor sich.
Wieder vergingen Jahre. Meine Geschwister und ich wuchsen heran, wir beendeten die Schule, zogen aus und begannen unsere eigenen Leben in unterschiedlichen Städten und anderen Ländern. Und natürlich hingen wir auch eigene Bilder in unseren Fluren auf: Bunte Strichlandschaften aus Kinderhand, wasserfarblich zerflossene Kunstwerke, Familienfotos. Das Bild aus dem Flur meines Elternhauses war schon lange in Vergessenheit geraten.
Bis gestern. Denn da erhielt ich ohne Ankündigung ein kleines Päckchen von meinen Eltern. Neugierig riss ich die Verpackung auf und sah als erstes die Bank. Sofort erkannte ich das Bild und las voller Verwunderung über dieses seltsame Geschenk den beiliegenden Brief.
Lieber Sohn,
erinnerst du dich an das Bild im Flur? Es ist ein Familienerbstück, musst du wissen, und wir möchten es gerne zu Lebzeiten weitergeben. Fragst du dich, was das Besondere an dem Bild ist? Schau doch mal ganz genau hin.
Ich blickte auf das Bild. Der Baum warf seinen Schatten immer noch auf die leere Stelle der Bank, die Person saß mit dem Rücken zu mir und schien zu warten.
Fällt dir der Baum auf? Und der Schatten, den er wirft? Wo sitzt der Mann auf der Bank?
Ein Mann war es also?
Bei dem Herrn handelt es sich um deinen Urgroßvater Eduard, der sich das Bild hat malen lassen. Es hat eine ganz bestimmte Botschaft – kommst du darauf?
Ich schaute zwischen Brief und Bild hin und her. Mir erschloss sich der Sinn des gesamten Unterfangens nicht.
Das Bild beschreibt unsere Familientradition:
»Lass dir und anderen die Sonne scheinen.«
Ich erinnerte mich, dass meine Eltern früher zu jeder passenden Gelegenheit diesen Spruch gesagt hatten. Als Kind war mir nicht klar, was er bedeutete, später hatte ich den Satz für mich so gedeutet, dass ich eher das Positive als das Negative sehen und irgendwie auch andere Menschen davon profitieren lassen solle.
Das Bild zeigte die Regel, nach der wir in unserer Familie seit jeher gelebt hatten. Uns Kindern war das nie bewusst gewesen, aber mir fielen jetzt eine Reihe von Situationen ein, in der meine Eltern getreu dieses Mottos gehandelt hatten, ob es um Freunde, Nachbarn oder Fremde ging. Obendrein wurde mir klar, dass sich auch meine eigene, neue Familie von ganz allein so verhielt, die Lebenseinstellung hatte also bereits Früchte getragen.
Der Brief endete mit der Bitte, dem Bild einen würdigen Platz zu geben, was ich sofort in die Tat umsetzte. Es kam natürlich nur ein einziger Ort dafür in Frage: der Flur. Nachdem ich es aufgehängt hatte, prüfte ich, ob es gerade hing und stockte plötzlich: Es existierten weitere Details auf dem Papier, die ich noch nie gesehen hatte.
So stand die Bank nicht einfach nur neben dem Baum, nein, im Hintergrund erstreckte sich ein himmelblauer See bis zum Horizont und ich konnte Berge, Wiesen und Felder entdecken. Warum in aller Welt war mir das noch vorher nie aufgefallen? Verwirrt stand ich eine Weile im Flur herum und starrte auf das Bild. Nach ein paar Minuten ging ich ins Wohnzimmer, nahm ich noch einmal den Brief zur Hand und entdeckte eine kleine Randnotiz.
Das Gute entfaltet sich mit der Zeit.
Während ich über diesem Satz brütete und versuchte, mir auf die Notiz einen Reim zu machen, erblühten auf dem Bild im Flur die ersten Blumen auf den Feldern.
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eine (wahre?) geschichte, die einen ein bisschen lächeln lässt. danke!