Die Dinge singen hör ich so gern

Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.
Sie sprechen alles so deutlich aus:
Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,
und hier ist Beginn, und das Ende ist dort.

Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,
sie wissen alles, was wird und war;
kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;
ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.

Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.
Die Dinge singen hör ich so gern.
Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.
Ihr bringt mir alle die Dinge um.

Rainer Maria Rilke, 1875 – 1926

Neulich kamen mir einige dieser Zeilen in den Sinn und ich überlegte, ob Rilke wirklich das damit sagen wollte, was ich dachte. Ich bin nicht so gut im Interpretieren solcher Werke (gar keiner Werke, eigentlich), aber mit Unterstützung des Internets lernte ich, dass meine Vermutung zur Bedeutung stimmte. Der gute Rainer Maria war etwa 25 Jahre alt, als das Gedicht um 1900 erschien und hatte offenbar Sorge, dass die Sprache das „Schöne Leben“ kaputt machen würde: Alles beschreiben und benennen wollen zu können, sei gar nicht nötig.

Auch wenn das Gedicht über hundert Jahre alt ist – meiner Meinung nach hat es nicht an Aktualität verloren. Im Gegenteil, es passt sogar zunehmend besser in die heutige Zeit, in der die Sprachvielfalt – zumindest subjektiv – Dank Anglizismen, Werbeneuschöpfungen und solcher Wörter, die gar keine sind, immer weiter zunimmt. Auch wenn einige Wörter im Dunkeln verschwinden (wer findet heutzutage denn etwas noch „pittoresk“ oder „flaniert“?), so ist die Zahl der neuen wohl um einiges höher (ich wuchs in einer Zeit auf, in der das Wort „downloaden“ noch nicht im Duden stand).

So passt Rilkes Sorge, der Mensch könnte zu viel beschreiben, erklären und verstehen wollen, ganz wunderbar auch in dieses Jahrtausend. Er plädiert für einen Kern an Nichtwissen. Und ist das nicht auch etwas Gutes? Nicht umsonst heißt es doch, Unwissenheit sei ein Segen. Jeder hat sich vermutlich schon in einer Situation wiedergefunden, in der er sich wünschte, etwas gar nicht erst gewusst zu haben.

Unwissenheit als durchaus zu akzeptierender Zustand lässt sich beliebig auf alle Lebensbereiche ausdehnen: Das Privatleben der Kollegen; das Sexleben der Eltern; eigene und Krankheiten anderer; Menschen, die man am liebsten nie getroffen hätte; den Zeitpunkt des eigenen Todes. Zumindest beim letzten Punkt ist uns wohliges Nichtwissen vergönnt.

Kürzlich wurde ich bei Twitter jedoch ganz passiv Zeuge einer Vorverschiebung dieses Moments: Jemand veröffentlichte eindeutige Fotos und Nachrichten seiner Suizidabsichten, allerdings mit Standortangabe. Dank einiger engagierter Twitterer war die Polizei schnell vor Ort. Wie sich am Tag darauf herausstellte, kamen die Helfer aber leider zu spät. Nun weiß ich von einem verwaisten Twitteraccount, dessen letzte Statusupdates eindeutig schrecklicher Natur sind. So schlimm diese Situation für alle Beteiligten (Familie, Twitterer, Polizei…) war und ist – ich wäre gern unbeteiligt gewesen und hätte es gar nicht erst gewusst, da bin ich ganz ehrlich. Und jeder, der sagt, ich solle mir die Seite dann eben nicht ansehen, der unterstreicht genau das, was Rilke sagt.

Aber es gibt auch weniger dramatische Situationen: Ich habe da zum Beispiel diese eine Verwandte, die ein Mal im Jahr zu einem unglaublich fürchterlichen Familientreffen einlädt. Sie ist extrem in allen Bereichen und jedes Jahr entstehen neue schlimme Erfahrungsberichte, die sich die Familie immer wieder erzählt – keine Soap kann das hervor bringen, was diese Frau uns zumutet. Nach ein paar solcher Erfahrungen habe ich mich nun bei ihr offiziell und absichtlich disqualifiziert, was mir bei zufälligen Treffen immer einen Seitenhieb von ihr einbringt. Aber: Ich werde nicht mehr eingeladen und bin sehr froh, nicht am eigenen Leib erfahren zu müssen, was sie dieses Jahr wieder für soziale Grausamkeiten geplant hat.

Also, lieber Rainer Maria Rilke, Sie haben recht. Und werden auch immer recht behalten.

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