Eine kurze Reise durch die Welt

Man mag mich für bescheuert halten, aber ich fahre gerne Bus. Ja, wirklich! Das gilt auch für’s Bahnfahren. Ich habe da sogar einen Lieblingsplatz. Man könnte mich dort abladen und ein paar Stunden später wieder abholen, ich wäre glücklich und zufrieden. So lange ich Musik und für den Notfall auch ein Buch dabei habe.

Aber am liebsten schaue ich raus. Ich gucke gern Menschen beim Leben zu und wenn es nur flüchtige Eindrücke sind, ist das gar nicht schlimm. Da ist zum Beispiel die ältere Dame, die sich auf ihren Rollator stützt. Gehen ist für sie Schwerstarbeit, aber ich kann sie noch lächeln sehen, bevor wir um die Ecke biegen. Ich stelle mir vor, dass sie zu Freunden geht und sich auf ein Tässchen Tee mit dem neusten Nachbarschaftstratsch freut.

Wir fahren in einer edlen Gegend an schönen, alten Häusern vorbei. Die Straßen sind eng und am Rand parken teure Autos. Gerade schiebt eine sichtlich erschöpfte Schwangere einen Kinderwagen aus einem Feinkostladen. Ich freue mich für sie, will aber wirklich nicht tauschen. Ein Leben in einer dieser Altbauwohnungen mit knarzenden Holzböden, hohen Decken und einem Mann, der als Architekt schwierige Arbeitszeiten mitbringt. Ein-zwei-drei Kinder, einfach verglaste Fenster, Hausaufgaben, Kochen, Familienurlaub, Elternabende und Rotznasen. Ich stelle mir gerade dieses Leben vor, als mir auffällt, dass ich gar keine Frau bin und mir zumindest die Schwangerschaft erspart bliebe und wir kommen an der nächsten Haltestelle an.

Es steigen einige Checker ein – picklige Neunmalkluge, die glauben, ihnen gehöre die Welt. Herrje, wie kann man nur so rumlaufen? Zwei von ihnen tragen Sachen, die ich nicht mal zu Hause anziehen würde und einer sieht aus, als hätten seine Haare schon wochenlang nur Gel statt Seife gesehen. Die Musik ihrer Handys stört, also drehe ich meine eigene etwas lauter und widme mich wieder meiner „Welt-Reise“. Die Häuser verändern sich langsam, werden einfacher und funktioneller. Diese Gegend kenne ich nicht so gut, hier bin ich selten. Wir kommen an einem Sportplatz vorbei und ich kann durch einen Drahtzaun eine kleine Fußballmannschaft sehen. Wie die sich hier (etwa jede Woche?) hinschleppen können für’s Kicken… oder machen die das sogar gerne? Mich würde selbst die Aussicht auf eine gemeinsame Dusche nicht regelmäßig zum Training locken.

An der nächsten Haltestelle steigen einige gut gebaute Sportler ein und die Gang der coolen Checker aus. Während sie am Bus vorbei laufen und sich gegenseitig aus dem Weg schubsen und Gesten machen, die wahrscheinlich momentan zu diesem ganzen Gehabe gehören, frage ich mich, warum ich nie so geworden bin. Sicher hat das was mit der Erziehung und dem Umfeld zu tun, in dem ich aufgewachsen bin, aber ich bin froh, mich nicht dermaßen verstellen zu müssen. Das kann doch nicht gesund sein und schon gar nicht gut enden können. Gerade überlege ich, welche Branche Arbeitsplätze für solch ein Personal bereit hält, als mir jemand auf die Schulter tippt.

Lippenbewegungen. Für Ton ist meine Musik zu laut, ich kenne das aber schon. Also nehme ich meine Tasche vom Sitz neben mir und lasse sich einen der neu zugestiegenen Sportler neben mich rutschen. Wenn ich so eine Tour mache, ist es mir aber völlig egal, wer neben mir sitzt, also bin ich schnell wieder in Gedanken. Der Bus fährt gerade durch ein kleines Wäldchen. Warum jemand mitten im Nirgendwo eine Bushaltestelle braucht, frage ich mich jedes Mal, wenn ich hier vorbei komme. Natürlich steigt niemand ein oder aus, wozu auch. Sicher tritt man beim zweiten Schritt aus dem Bus gleich in einen Sammeleimer für Frösche oder in einen Sumpf. Hier gibt’s ja nicht mal Wanderwege, nur Wildschweine.

Weil die Landschaft für ein paar Minuten nichts Neues bietet, schaue ich mich kurz im Bus um. Es gibt die obligatorische Kleinfamilie, den typischen Studenten und den üblichen Großvater. Aber wer ist besonders? Da ist der etwas verspannte Anzugträger. Entweder fährt er nicht oft oder nicht gern Bus. Vielleicht hatte er auch einfach nur einen schweren Tag und lässt das jetzt an seiner Aktentasche aus. Es macht mich ganz nervös, wie er gedankenverloren daran herumspielt. Wo er wohl gerade ist? Noch im Job oder schon zu Hause? Den Schweißperlen auf seiner Stirn nach zu urteilen (sein Gesicht hat ohnehin keine gute Farbe) schafft sein Kopf nie komplett den Weg vom Büro ins Privatleben. Wenn das stimmt, ist er ein armer Mann. Hat viel nachzuholen.

Plötzlich scheint mir die Sonne grell ins Gesicht. Wir haben das Waldstück hinter uns gelassen und steuern auf den nächsten Stadtteil zu. Es ist ein kleiner Nebenort, größtenteils Neubaugebiet, in das moderne Kleinfamilien gezogen sind, die sich ein Leben in der Stadt nicht leisten können oder wollen. Hier gibt es Spielplätze, Kindergärten und saubere Gehwege. Allerdings ist hier abends auch der Hund begraben. In spätestens 20 Jahren zieht also der Nachwuchs weg und wenn sich an der demografischen Situation nichts ändert, können die Kindergärten dann in Seniorenheime umgebaut werden.

An der ersten Haltestelle des Dorfes befindet sich das vielleicht älteste Gebäude der Gegend: eine uralte Kneipe, ich war einmal eher zufällig drin. Es roch nach altem Rauch und ich hatte unwillkürlich das Bild von unzähligen Saufgelagen alter Bierbauchträger im Kopf. Kein schöner Ort. Trotzdem wundert es mich, dass ein offensichtlich Obdachloser einsteigt. Was treibt ihn in diese Gegend und kann er sich die Busfahrt überhaupt leisten? Wobei, wer will ihn bei einer Kontrolle schon lange festhalten? Vielleicht fährt er wirklich ohne Ticket. Ich habe mal gehört, man bräuchte in Deutschland nicht obdachlos zu sein, es gebe immer die Möglichkeit, irgendwo unter zu kommen. Hoffentlich muss ich das nie ernsthaft testen.

Die Leute setzen sich weg, als er sich einen freien Platz sucht. Vielleicht stinkt er. Wie sich das wohl anfühlt, wenn Menschen diese eklige Notiz von einem nehmen? So negativ möchte ich nie auffallen. Wobei das sicher einmal eine interessante Situation wäre. Wie das Erlebnis, kein Geld mehr zu haben. Das ist mir schon passiert, aber nur für ein paar Tage. Nicht zu wissen, wovon man sich das nächste Essen kaufen soll, ist auch etwas, das ich unter „brauchbar, muss aber nicht unbedingt sein“ abgelegt habe.

Wir kommen langsam in das Dorfzentrum und ich schließe kurz die Augen. Da hier jede Straße und fast jedes Haus gleich aussieht – weiße Fassade, rotes Dach, Gartenzaun, perfekter Rasen und vielleicht ein kleines Klettergerüst im Garten – kann ich mir überlegen, ob mir so ein Leben mehr zusagen würde als eines im Altbau. Momentan fühle ich mich gar nicht so, als würde ich das wollen, ich glaube, mein Leben passt momentan auch nicht zu so einem Haus.

Der Bus wird langsamer und ich weiß, dass wir jetzt die Fußgängerzone erreicht haben. Hier gibt es eine Geschwindigkeitskontrolle und der Fahrer achtet darauf. Ob er es wohl selbst zahlen muss, wenn er geblitzt wird? Ein Leben als Busfahrer habe ich mir früher immer toll vorgestellt: Man sieht eine Menge von der Welt, fährt dauernd und hat mit vielen Menschen zu tun. Später überlegte ich mir dann, dass Busfahrer eigentlich nur bestimmte Strecken der Welt kennen, dauernd fahren müssen und mit Menschen zu tun haben, ob sie wollen oder nicht. Inzwischen will ich kein Busfahrer mehr werden – aber ich bin ja auch nicht mehr sieben.

Leider muss ich die Augen wieder auf machen, weil die Fahrt sich dem Ende zuneigt. Bald erreichen wir die Endhaltestelle, einen kleinen Busbahnhof. Ich ziehe mich aus den Gedanken zurück in die Wirklichkeit und schalte den Musikplayer aus. Mit einem Mal höre ich das Stimmengewirr im Bus und bin froh, meine Ohrstöpsel zu haben. Ich schaue mich um und stelle fest, dass der Wagen mittlerweile recht voll geworden ist. Kein Wunder, es ist später Nachmittag und in der Nähe gibt es ein Schwimmbad. Ich kann nicht verstehen, warum sich im Sommer so viele Menschen in ein öffentliches Schwimmbad quetschen. Das kann doch nicht schön sein… Mir ist jedes aufgeblasene Privatschwimmbecken lieber als ein sonnencremegetränktes, vollgepinkeltes Massenbad.

Der Bus hält. „Endstation, bitte aussteigen!“ sagt es aus den Lautsprechern. Fast ist es schade, dass meine kleine Reise zu Ende ist, ich freue mich jetzt schon auf die Rückfahrt. Heute werde ich vom Bus abgeholt. Er lächelt: „Du siehst glücklich aus.“

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