Wo die Busse schlafen

Als Kind war Busfahren für mich total stressig. Die Schüler aus der Oberstufe waren so groß, dass ich immer nur ihre Beine sah. Es fühlte sich an wie im Wald… Und außerdem konnte man nie ganz sicher sein, dass der Bus auch wirklich dorthin fuhr, wo man hin wollte. Außerdem gab es natürlich Gerüchte. Über Generationen hielt sich die Geschichte, dass ein Bus einmal einen gewissen Abhang herunter gerollt sei. Dieser Abhang befand sich auf unserem normalen Schulweg und jedes Mal hoffte ich, dass das nicht wieder passieren würde.

Ja, ich war vermutlich ein bisschen naiv und leichtgläubig. Aber ich war ja auch ein Kind. Glücklicherweise musste ich nicht allzu häufig mit dem Bus fahren, denn die Schule lag auf dem Arbeitsweg meiner Eltern und darum wurde ich meist gebracht.

Doch da war dieses eine Mal. Ich ging noch zur Grundschule und nahm den einzigen Bus, der morgens durch unser kleines Dorf fuhr. Der Fahrer hieß Manni. Ich fand ihn irgendwie cool, wie er diesen großen Bus fuhr. Alle Schüler kannten ihn, manche unterhielten sich mit ihm, ich hatte mich das aber nie getraut. Er war nämlich stark und groß und sah auch ein bisschen grimmig aus. Manni kam immer pünktlich, außer, es lag zu viel Schnee. Wenn er krank war und ein anderer Busfahrer kam, machten sich alle Sorgen. Manni gehörte für uns Schüler irgendwie zur Schule dazu.

Die Busroute war auch immer die gleiche: Zunächst wurden an der Grundschule alle kleinen Kinder ausgeladen und anschließend fuhren die größeren ins nächste Schulzentrum. An diesem einen Tag saß ich also bei meinen Freunden und war wie üblich nervös. Anstatt aber rechtzeitig vor dem Halt aufzustehen, blieb ich zu lange sitzen. Als mir das auffiel, war es zu spät: Gerade kämpfte ich mich noch durch den Wald aus Oberklässlerbeinen, da hörte ich schon das Zischen der Drucklufttüren und der Bus fuhr wieder an.

Da stand ich also. Hatte meine Haltestelle verpasst und wusste nicht, wo die nächste war. Ich lief zurück zu meinen Freunden und wir beratschlagten uns. Einige meinten, ich solle bei der nächsten Haltestelle aussteigen und zurück laufen. Nur… der Bus hielt einfach nicht mehr. Also kamen wir gemeinsam zur Überzeugung, dass es wohl am klügsten sei, beim Schulzentrum einfach im Bus sitzen zu bleiben. Wir vermuteten, dass Manni eine weitere Tour fahren und neue Schüler abholen würde.

Gesagt, getan. Der Bus leerte sich, ausnahmslos alle Schülerinnen und Schüler stiegen aus. Ich blieb als einziger Fahrgast sitzen und dachte „das sieht nicht gut aus“. Ich kauerte mich auf dem Sitz zusammen und schaute aus dem Fenster.

Schon bei der ersten Kreuzung sackte mir das Herz in die Hose: Zurück zur Grundschule hätte der Bus hier links abbiegen sollen, er fuhr aber rechts. Die Straße führte weiter von unseren Ortschaften weg. Vielleicht fuhr er ja für die zweite Route einen anderen Weg? Oder es gab hier eine Abkürzung, die ich nicht kannte?

Ich fragte mich, wann denn die nächsten Fahrgäste einsteigen würden. Der Bus hielt nicht ein einziges Mal an einer Haltestelle. Irgendwann schaltete Manni das Radio ein – bis dahin hatte ich gar nicht gewusst, dass es eines gab. Er summte sogar ein bisschen zur Musik.

Mit der Zeit verließ mich der Mut. Die Strecke führte immer weiter von zu Hause weg, irgendwann waren mir sowohl die Straßen als auch die gesamte Gegend völlig unbekannt. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt fing ich an zu weinen. Manni musste etwas gehört haben, denn er schaute irgendwann prüfend in seinen Fahrgastspiegel und erblickte in der Busmitte ein kauerndes Häufchen Elend.

Was ich zu dem Zeitpunkt nicht wusste: Manni arbeitete nicht für ein großes Busunternehmen, ihm gehörte stattdessen dieser Bus. Er wurde von der Stadt angeheuert, morgens die Schüler von den Ortschaften an diese beiden Schulen zu bringen und zu meinem Glück war er ein ausgesprochener Kinderfreund.

Also rief er mich zu sich nach vorne, ich durfte mich auf den vordersten Platz setzen. Und da beruhigte er mich erst einmal. Er redete lieb auf mich ein, dass ich mir keine Sorgen machen bräuchte und dass er mich schon wieder zur Schule bringen würde. Wieso ich aber denn nicht ausgestiegen sei und warum ich nichts gesagt hätte, wollte er wissen. Vermutlich habe ich ihm ein wenig antworten können, aber ich war immer noch ziemlich verängstigt. So erfuhr ich aber dann zumindest, wohin die Reise jetzt ging: „Wir fahren erstmal zu mir nach Hause. Meine Arbeit ist für heute nämlich eigentlich erledigt.“

Wir erreichten einen alten Bauernhof. Manni parkte den Bus rückwärts in einer Scheune und schloss nach dem Aussteigen die Drucklufttür von außen. Das fand ich ziemlich cool. Wir gingen ins Haus und überraschten seine Frau, die mit dem Frühstück auf ihn wartete. Beide lachten, als er ihr die Geschichte erzählte. Ich fand die Situation mittlerweile eigentlich ganz nett und wäre gerne noch etwas geblieben, statt in die Schule zu gehen. Aber Manni genehmigte sich nur einen Kaffee, dann musste ich seiner Frau tschüss sagen und er nahm mich mit zu seinem Auto.

Ich erinnere mich, dass ich auf der Fahrt zur Grundschule dachte, ich müsse mir seinen Wohnort für später merken. Leider war ich aber doch zu aufgeregt für diese Denkleistung. Manni erzählte, wie komisch es sich anfühlen würde, erst einen Bus mit dem großen Lenkrad zu fahren und jetzt in einem kleinen Auto mit so einem winzigen Lenkrad zu sitzen. Ich stellte fest, dass der Mann überhaupt nicht grimmig war, sondern einfach eine tiefe Stimme hatte. Ich mochte ihn. An meiner Schule angekommen ließ er mich aussteigen. Wir sagten tschüss und Manni fuhr davon. Mittlerweile war er bestimmt ziemlich hungrig.

Ich ging ein paar Schritte aufs Schulgelände. Natürlich hatte die Schule längst angefangen, ich war viel zu spät dran. Da ich auch damals schon ungerne im Rampenlicht stand, entschied ich mich also kurzfristig, an diesem Tag die Schule komplett zu schwänzen – statt mein Zuspätkommen erklären zu müssen. Also drehte ich um und lief nach Hause. Zeit genug hatte ich ja.

Auf dem Weg machte ich mir Gedanken: Ich war der einzige Schüler, der bei unserem Manni zu Hause gewesen war, wusste, wo der Bus schlief und seine Frau kennengelernt hatte. Das machte mich dann doch ein bisschen stolz.


Titelfoto: Burst/StockSnap.io

3 Kommentare

  1. Eine Geschichte, die mir das Herz wärmt und mich die eigene Kindheit erinnert: Was hatte ich immer Panik, meine Haltestelle zu verpassen!
    Erst viele, viele Jahre später habe ich gelernt, dass man bei uns nicht gleich erschossen wird, wenn man mal an der falschen Halte aussteigt oder die falsche Bahn erwischt. 🙂

Schreibe einen Kommentar zu Thomas Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert