„Ich habe Jesus gesehen!“

Als Kind war eins meiner Hobbys meine Videokamera. Mit einem Freund drehte ich immer wieder die seltsamsten Filme – meist hatten sie kein Drehbuch, und wenn doch, dann wurde am Ende eigentlich doch nur improvisiert. Mein Freund stand immer vor, ich immer hinter der Kamera. So verbrachten wir unzählige Nachmittage, manchmal zu zweit, manchmal aber auch mit einigen anderen Freunden.

Mit der Zeit wurden seine Einfälle kreativer und auch aufwändiger. Zum Beispiel stellte er eines Tages Kunstblut selbst her. Die Zutaten bestanden zu größten Teilen aus Ketchup und Rote Bete-Wasser. Nach dem Drehtag ging mir dieser Geruch stundenlang nicht aus der Nase und alle Klamotten, die „vollgeblutet“ waren, mussten wir wegwerfen. (Ich glaube, meine Mutter weiß bis heute nicht, dass dabei ein-zwei unserer Geschirrhandtücher ihr Leben ließen.)

Ein anderes Mal war der Plot, dass er um sein Haus lief und überall gegen stieß, stolperte, sich weh tat, herein fiel und so weiter. Es war beim Filmen so lustig, dass ich die Kamera nicht still halten konnte und ständig vergaß, auf sein geheimes Zeichen die Aufnahme zu unterbrechen. So stand er also im Blumenbeet seiner Eltern, vor imaginären Schmerzen zitternd und stammelte so lange „tja… tja… TJA!“, bis mir auffiel, dass ich gemeint war.

Ja, wir hatten viel Spaß. Einmal plünderte er erst hollywoodreif die Minibar meiner Eltern und machte danach in unserem Badezimmer Werbung für Aronal und Elmex. Ein anderes Mal hatten wir Besuch aus Frankreich, also drehten wir einen Agententhriller in schlechtem Französisch, natürlich mit Verkleidung, Bösewichten und Verfolgungsjagd. Manchmal waren auch echte Filme eine Vorlage: So versuchten wir uns einmal an der Vampirparodie Dracula – Tot aber glücklich von Mel Brooks, natürlich mit passender Musikuntermalung (Brahms‘ Ungarischer Tanz Nr. 5, YouTube). Und einmal drehten wir auch die Simpsons: Alle Schauspieler erhielten eine gelb eingefärbte Badekappe und ein gelbes Gesicht, „Marge“ wurde mit Gel, Spray und schließlich sogar mit Klebstoff die Frisur in die Höhe geföhnt. Dabei entzieht es sich meiner Kenntnis, wie lange sie brauchte, um ihre mehr als schulterlangen Haare wieder zu entstylen.

Immer wieder wurden alle Freunde und Verwandten, die in der Nähe waren, in die Filme eingebunden. Denn diejenigen, die nicht mitmachen mussten, standen sonst immer plötzlich unbeteiligt im Bild herum. Ganz besonders im Kopf geblieben ist mir dazu unsere Antwort auf die Jesusparodie das Leben des Brian. Mein Freund hatte von irgendwo ein etwa drei Meter großes und entsprechend schweres Holzkreuz aufgetrieben und einen Freund eingeladen, der seine Peitsche mitbrachte.

Ausgestattet mit Dornenkranz, zerrissenen Kleidern, etwas Kunstblut und dem übergroßen Kreuz auf den Schultern wurde mein Freund als „Jesus“ durch unseren verschlafenen Ort gepeitscht. Hinter mir als Kameramann lief ein Bekannter mit einer kleinen Soundanlage auf der Schulter, aus der für die passende Atmosphäre laut Vangelis – Conquest of Paradise (YouTube) schallte. Als der Höhepunkt der Szene fast erreicht war, passierte jedoch das Unvermeidbare: Ein Nachbar fuhr in seinem Auto an uns vorbei – mit aufgerissenen Augen und weit offen stehendem Mund. Auch wenn wir uns davon in der Ernsthaftigkeit des Films nicht beirren ließen, so war beim späteren Ansehen dieser Moment doch immer wieder der größte Lacher.

Im Bus

Der Busfahrer
wippt
auf seinem Stuhl auf und ab

Schaukelnd

Die Fahrgäste
neigen
sich gemeinsam in alle Richtungen

Ruckelnd

Ich
schaue
auf mein Smartphone

Und lese
Spiele
Schreibe
Und lese

Von mir aus
stundenlang

5 Millionen Euro – Teil 2

Dies ist Teil 2. Teil 1 findest du hier.


„WAL.“
„Wie, bitte?“
„WAL. Wir beginnen mit dem WAL-Prinzip.“
„Ich stehe nicht so auf Fischerei. Ist mir zu nass. Außerdem, ist Walfang nicht verboten?“
„Red keinen Quatsch. Das Wal-Prinzip ist ein Drei-Punkte-System, nach dem man seine finanzielle Situation bewertet und plant.“ Tobias legt auf unserem Tisch drei imaginäre Bauklötze nebeneinander: „W steht für Wohnen, A für Arbeiten, L für Leben.“
„Klar soweit.“ Ich nehme mir ein Wurstbrötchen.
„Fangen wir mit deiner derzeitigen Situation an, das müsste schnell abgehandelt sein…“
„Sehr witzig.“
„Punkt eins, das W: Du wohnst in deiner eigenen Wohnung. Nur ist sie ein bisschen klein, hast du letztens selbst gesagt. Wie sieht es aus – hättest du gern eine größere, die vielleicht sogar dir selbst gehört? Du kannst dir auch ein eigenes Haus kaufen. Dazu gleich. Erst der zweite Punkt, das A: dein Job. Du bist zufrieden in deiner Kanzlei, auch wenn du manchmal meckerst.“
„Ich meckere doch nicht!“
„Ruhe jetzt. Prinzipiell bist du dort zufrieden. Die Frage, die du dir stellen musst, lautet: Will ich weiter dort arbeiten oder nicht? Du kannst es dir momentan leisten, nicht zu arbeiten, aber nicht für den Rest deines Lebens. Frührente ist also nicht drin. Und der dritte Punkt, das L: Du lebst allein und hast keine Beziehung. Du hast also ein finanziell gesehen günstiges Leben, aber wie ist dein Plan? Wenn du eine Beziehung willst, wann ungefähr? Das hat nämlich Auswirkungen auf den ersten Punkt: auf deine Wohnung. Überlege dir, wie viel Platz du jetzt und in den nächsten fünf bis zehn Jahren benötigen wirst.“ Tobias nimmt sich ein Käsebrötchen und beißt genüsslich ein großes Stück ab. „Zum Punkt „Leben“ gehört übrigens auch die Frage, wie viele große Ausgaben du jedes Jahr in etwa planst. Wie oft willst du verreisen, was für Anschaffungen hast du vor und so weiter.“

Tobias spricht in ruhigem Ton, aber mir klingeln jetzt schon die Ohren. „Meine Güte, das sind aber viele Fragen. Und auch noch so grundsätzliche! Woher soll ich denn wissen, was ich in fünf Jahren machen will… Das ist ja wie beim Bewerbungsgespräch: Wo sehen Sie sich in zehn Jahren? Nee, mein Lieber, das muss auch anders gehen.“
„Tut es nicht“, widerspricht mir Tobias. „Aber du musst das ja nicht sofort entscheiden und wissen. Wie wäre es zuerst mit etwas, na, sagen wir, praktischer Übung?“
„Soll ich jetzt ein neues Bankkonto eröffnen oder was?“
Tobias grinst mich an. „Nee. Du sollst shoppen!“

Nach einiger Zeit der Überzeugungsreden und sechs weiteren belegten Brötchen überredet Tobias mich am Ende tatsächlich dazu, mit ihm einkaufen zu gehen. „Für deinen neuen Stil“, sagt er, auch wenn ich nicht weiß, was er damit meint. Ich bezahle also Champagner und Brötchen – erstaunlicherweise komme ich sogar noch ganz gut weg. Falls die sympathische Bedienung die Flasche tatsächlich im Supermarkt gekauft hat, hat sie zumindest einen ordentlichen Preis dafür gemacht. Als wir das Café verlassen, lächelt sie mir zu und winkt sogar kurz.

Wir begeben uns sofort zum nächstbesten Herrenausstatter. Am Eingang werden wir von einer breit lächelnden Dame in einem seriösen Hosenanzug aufgehalten: „Guten Tag, die Herren! Wussten Sie, dass wir heute zehnjähriges Jubiläum feiern?“ Mit einem Blick auf unsere recht weltlichen Klamotten fügt sie hinzu: „Vermutlich nicht. Darf ich Sie trotzdem auf ein Glas Sekt einladen?“
„Nein danke, wir hatten gerade Champagner“, erwidere ich. „Wo finden wir bitte die Herrenabteilung?“
„Dies ist ein Herrenausstatter. Sie stehen also bereits mitten drin.“ Ihr aufgesetztes Lächeln ist verschwunden und kalt erwidert sie meinen Blick.
„Dankeschön.“ Die blöde Kuh. Und auch noch Recht haben. Das kann ich ja leiden!
Hinter uns geht die Tür auf und während die Türsteherin sich von uns abwendet, erstrahlt wieder das freundliche Lächeln auf ihrem Gesicht. „Guten Tag, die Dame! Wussten Sie, dass wir heute zehnjähriges Jubiläum feiern?“
„Lass uns gehen“, murrt Tobias. „Die brauchen dein Geld nicht.“
„Stell dich nicht an“, meine ich, „lass uns wenigstens kurz gucken.“
Wir schlendern durch die erste Reihe von Anzügen, als uns ein schlanker und ausgesprochen gut gekleideter Mitarbeiter anspricht. „Kann ich Ihnen helfen?“
„Hoffentlich“, antworte ich einer plötzlichen Idee folgend. „Sagen Sie… ich habe hier vor einigen Jahren mal eine weiße Hose gekauft. Es ist keine Jeans und keine Stoffhose, eher ein künstliches Material. Schwer zu bügeln, und beim Gehen knistert die Hose. Nun ist sie eingelaufen und ich würde mir gerne noch eine kaufen. Führen Sie die noch?“
„Wie, hast du die Hose denn einlaufen lassen?“ Tobias hat verstanden und setzt noch eins oben drauf. „Ich hab dir immer gesagt, du sollst lieber deine Mutter die Wäsche machen lassen. Aber nein, der werte Herr kann das ja alleine.“

Das Mitarbeitermodel überlegt und mustert uns beide von Kopf bis Fuß. Dann eröffnet er: „Es tut mir wirklich leid, aber wir verkaufen hier keine „Knisterhosen“. Ich bin mir sicher, dass Sie dieses Exemplar in einem anderen Geschäft gekauft haben. Bitte schauen Sie doch einmal zwei Türen weiter nach, dort befindet sich eins dieser eher günstigeren Labels.“ Die letzten Worte betont er nachdrücklich, seine Abneigung ist nicht zu überhören.

„Wissen Sie eigentlich, wen Sie vor sich haben?“ Tobias‘ Ton wird laut und etwas unwirsch.

„Nein, das weiß er nicht“. Ich nehme meinen Freund beim Arm. „Komm, wir gehen. Hier möchte man uns nicht bedienen, freiwillig werde ich hier auch kein Geld lassen.“ Wir verlassen den Laden. Wieder auf der Straße platzt Tobias heraus: „Eine Unverschämtheit ist das! Ich würde zu gerne wieder rein gehen und diesen hochnäsigen Arschgeigen verraten, was ihnen gerade für ein Geschäft durch die Lappen gegangen ist. Ich meine, hallo? Wir sind hier doch nicht in „Pretty Woman“! Was für eine Verschwendung an Lebenszeit! Okay, wir haben ihn herausgefordert, aber dass er darauf so krass einsteigt, hätte ich nie für möglich gehalten. Was denkt der Schnösel sich eigentlich? Ich hab’s dir ja gleich gesagt, wir hätten da sogar gar nicht erst rein gehen sollen. Drecksladen. Hier kaufe ich nie wieder was!“

So schimpft er noch eine ganze Weile weiter, während wir die Fußgängerzone entlang schlendern. Ich bin zur Hälfte sauer und zur Hälfte amüsiert über Tobias‘ Wutausbruch. Im nächsten Einkaufszentrum werden wir dann aber doch noch fündig und sogar nett bedient. So ist nach dem gemütlichen Frühstück dies meine erste große Ausgabe nach dem Gewinn. Normalerweise hätte ich mir nie so viele Klamotten geleistet, dass der Preis vierstellig wird, aber nun habe ich das Geld ja. Außerdem wird Tobias nicht müde, mir zu erläutern, was für eine großartige Veränderung diese neuen Sachen an mir bewirken würden und dass ich ja ganz wunderbar aussähe in diesen Schuhen. Was soll’s – ich kann es mir ja jetzt leisten und hatte bislang ohnehin zu wenig elegante Garderobe.

„Den Anzug behält er gleich an“, entscheidet Tobias.

„Aber –„, will ich einwenden, werde aber sofort von ihm unterbrochen.

„Stopp! Keine Widerrede, Mark. Wir sagen das jetzt deinen Eltern. Das wird ein Spaß, du im hübschen Fummel und außerdem war ich schon lange nicht bei deiner Familie zu Hause. Ich darf mich doch einladen?“ Unsere freundliche Bedienung hat mittlerweile angefangen, verhalten zu lächeln. Wahrscheinlich glaubt sie, heute Abend würden Tobias und ich meiner Familie feierlich und gut gekleidet eröffnen, dass wir ein schwules Paar seien. Ich möchte ihre Gedankenwelt nicht zerstören und stelle das nicht richtig.

„Natürlich darfst du das, Tobias! Überhaupt: Sollten meine Eltern erfahren, dass ich dich getroffen und nicht mit zum Essen nach Hause gebracht habe, gibt es Tote.“

Mit unglaublich vielen Tüten und Taschen beladen steigen wir in den nächsten Bus zu meinem Elternhaus. Ich bin gespannt, was sie sagen werden – zu meinen neuen Schuhen und vor allem dazu, dass sie mir nun nie wieder finanziell unter die Arme greifen brauchen.

Fortsetzung folgt!