Zügelloses Schreiben

Vor gut einer Woche hatte ich einige depressive Tage. Die Beschwerden sind bei der Krankheit zwar nicht so vielfältig wie beispielsweise bei Corona, da kann man ja von Kopf bis Fuß alles bekommen, aber auch eine Depression hat einen Strauß von Symptomen im Gepäck. Bei mir sind es in der Regel die gleichen, aber dieses Mal war das anders.

Diesmal war ich wie entrückt. Das Gefühl wird von Betroffenen häufiger beschrieben, besonders gut kannte ich es aber nicht. Deshalb fühlte sich das auch sehr seltsam an. Ich schwebte richtiggehend über mir, schaute zu, wie meine Person aufstand, duschte, heulte, Frühstück machte, am Tisch saß. Mein Kopf war so etwas wie benebelt, langsamer als sonst, wie bei einer Erkältung, auf dem Weg zum Schwindel. Es fühlte sich an, als sei mein Aufwachprozess nicht ganz abgeschlossen worden und eine Hälfte von mir würde noch träumen. Draußen war es neblig und diesig, ganz genau wie in mir drin – eine billige Analogie, wie ich spaßlos grinsend feststellte.

Normalerweise kann ich mich sehr gut mit mir selbst beschäftigen, ich habe eher Lust auf zu viele Dinge gleichzeitig als dass mir langweilig würde. Aber in diesem Moment machte mir gar nichts Freude. Gleichgültigkeit ist ein weiteres bekanntes Symptom und meine Güte, mir war einfach alles egal, die Welt hätte untergehen können, es hätte mich nicht interessiert. Nach mehreren gelangweilt abgebrochenen Aktivitäten setzte ich mich irgendwann an das digitale Tagebuch und schrieb drauflos.

Über eine Stunde tippte ich am Eintrag herum und einfach darüber, was mir in dem Moment im Kopf herum ging. Anders als bei, ähem, mehr oder weniger logisch aufgebauten Blogartikeln, hat der Tagebucheintrag überhaupt keinen roten Faden, er zielt ja auch in keine Richtung, ich musste nirgendwohin.

Ich schrieb erst, wie unsagbar müde und schwer ich mich fühlte, als sei meine Handbremse fest angezogen, und regte mich danach darüber auf, dass ich in diesen Momenten keinen Blogeintrag zustande bekäme: „Ich bin in den letzten paar Tagen wie blockiert. Diese psychische Scheiße gerade, die stoppt jeden kreativen Gedanken in mir.“ Es war nicht das erste Mal, dass ich dieses Phänomen an mir beobachtete, im Gegenteil, das ist jedes Mal so.

Was ich beim Schreiben allerdings nicht bemerkte: Ich tippte immer weiter und auch wenn der Text niemals ein Blogeintrag werden wird (jedenfalls über diese Beobachtung hier hinaus), kam trotzdem etwas dabei raus, und das war auch noch recht unterhaltsam. Später ließ ich mir den Eintrag vom iPhone vorlesen (eine aus mehreren Gründen großartige Funktion) und stellte fest: Huch, der Text ist auf seine Weise gut geworden.

Was ich beim Schreiben nämlich unbewusst getan hatte, war das Freie Assoziieren. Das wird nicht nur in der Psychoanalyse genutzt, sondern ist eine künstlerische Technik zum kreativen Schreiben 🤯 Dort heißt es Automatisches Schreiben und die Wikipedia sagt, das sei in der Literatur ein

Vorgang, bei dem das Schreiben dem Denken unzensiert folgt, ihm gleichsam hinterherläuft. Am ehesten soll dies gelingen, wenn man sich nach dem Aufwachen, noch im Halbschlaf an den Schreibtisch setzt und die im Dämmerzustand formulierten Sätze sogleich aufschreibt, sozusagen „unbewusst“ oder „an der Schwelle des Traums“.

Halbschlaf? Dämmerzustand? An der Schwelle des Traums? Hallo, perfekter Zustand! Ich entwarf sogar eine verhältnismäßig lustige, wenn auch etwas morbide Vorstellung davon, wie alles weiter ginge, wenn ich, von Müdigkeit übermannt, nie wieder von diesem Stuhl aufstünde. Von wegen keine Kreativität!

Also: Es war schon alles ziemlich doof, und in dem Beitrag geht es erst einmal bergab, aber spannend zu sehen war es hinterher, wie ich mich beim Tippen aus der Talsohle des Moments wieder bergauf schrieb oder mich zumindest beim Anstieg begleitete, und am Ende beschloss, in der wirklichen Welt einen Spaziergang zu machen. Und das klappte sogar.

Wie ich einmal wegen einer Nagelschere beinahe festgenommen wurde

Ryanair begann um die Jahrtausendwende, den mitten im Nirgendwo liegenden Flughafen Frankfurt-Hahn anzufliegen. (Gerade habe ich gelernt, dass der dafür extra umbenannt wurde, obwohl er mit Frankfurt wirklich überhaupt nichts zu tun hat.) Damals machte die Firma Schlagzeilen damit, sagenhaft günstige Flüge anzubieten.

In der Zeit, es war Ende 2001 oder Anfang 2002, war ich ziemlich pleite und darum sofort begeistert, als ein entfernter Bekannter vorschlug, wir könnten eine kleine Gruppenreise nach London unternehmen, mit einer Übernachtung, Samstag hin, Sonntag zurück, und der Flug würde nur zwei Euro kosten, dazu käme noch ein Bett in der Jugendherberge. Er würde alles organisieren – wir sollten ihn mal machen lassen.

Hinflug

Auf der Hinfahrt, wir waren vier Leute in einem kleinen Auto, stellten wir bald fest: Hahn ist wirklich, wirklich weit draußen, nämlich 125 Kilometer oder anderthalb Fahrstunden westlich vom Frankfurter Hauptbahnhof und damit sogar näher an Trier gelegen, völlig verloren irgendwo im Hunsrück, ohne Zuganbindung, und wir mussten damals lang über Landstraßen fahren. Wie dem auch sei, wir waren spät dran. Also drückte der Bekannte aufs Gas, wir unterhielten uns angeregt über irgendwas und hatten plötzlich einen Auffahrunfall. Überraschenderweise einigte sich der Bekannte schnell mit dem Autofahrer, dem er drauf gefahren war, womöglich wollte der auch seinen Flug bekommen, außerdem hatte es nur ein paar Beulen gegeben.

Später parkten wir auf einem ausrangierten Rollfeld, rannten mit unseren Täschchen zum Check-In und kamen tatsächlich noch rechtzeitig für den Flug. Ich weiß nicht mehr, wann sich das herausstellte, aber neben dem Ticket in Höhe von einem Euro pro Strecke mussten wir Steuern zahlen, die sich nicht am Flugpreis, sondern an einem anderen Betrag orientierten und darum um ein Vielfaches höher waren. Doof, aber nicht zu ändern. Irgendwann saßen wir aber im Flieger und waren soweit zufrieden.

Was ich damals nicht wusste: Auch London hat ein „Frankfurt-Hahn“, das heißt dort „London-Stanstead“ und liegt 60 Kilometer nordwestlich vom Londoner Zentrum. Anders als in Deutschland hatte dieser Flughafen aber eine Zuganbindung, die wir natürlich zwingend nutzen mussten. Das für mich überraschend erforderliche Ticket war so teuer, dass sich inzwischen fast ein regulärer Linienflug nach Heathrow gelohnt hätte. Ich war ab diesem Zeitpunkt offiziell genervt und bereute es, dem Bekannten die Reiseplanung überlassen zu haben und darum jetzt mit dieser Wundertüte von plötzlichen, unausweichlichen Zusatzkosten konfrontiert zu werden. Hätte ich die Reise geplant, hätte sie wegen der Kosten nie stattgefunden, jedenfalls nicht für mich.

London

Wir tingelten den Tag über durch London, schauten allerlei an und stellten fest, dass wir vier touristisch nicht kompatibel waren: Der Bekannte wollte andere Dinge sehen als wir restlichen drei. Die Gruppe schloss darum immer wieder Kompromisse, so dass wir abends beim Eintreffen in der Jugendherberge alle gereizt waren. Wir schliefen in einem Viererzimmer mit Hochbetten und ausnahmsweise lief hier alles reibungslos.

Am nächsten Tag wollten wir weiter erkunden, konnten uns durch die inzwischen vorherrschende Anspannung aber bald nicht mehr auf Kompromisse einigen. Irgendwann spaltete sich die Gruppe, der Bekannte ging auf eigene Faust los.

Wir vereinbarten, uns später am Bahnhof zu treffen, um gemeinsam zurück nach Stanstead zu fahren. Um möglichst viel von London erfahren zu können, planten wir, den spätesten Zug zu nehmen. Wir waren pünktlich am Gleis, der Bekannte leider nicht. Nach etwas Überlegerei fuhren wir mit schlechtem Gefühl allein los, aber die Billigtickets waren nicht umbuchbar. So blieb uns nur die Wahl zwischen diesem unechten ein-Euro-Ticket oder einem neuen, spontan gekauften, wesentlich teureren – und das konnten und wollten wir uns nicht leisten, nur weil dieser verplante Typ zu spät war.

Irgendwo zwischen London und Stanstead fiel uns allerdings auf, dass der Bekannte alle Flugtickets bei sich hatte, damals druckte man seine Fahrscheine und Flugtickets noch aus. Ich wollte gerade ausrasten, da kam er durch den Zug auf uns zugelaufen – offenbar hatte er in letzter Sekunde noch in den hintersten Waggon einsteigen können. Ich beschloss, jetzt einfach alles nur noch stoisch zu ertragen. Lange sollte dieser Plan aber nicht halten.

Rückflug

Am Flughafen waren wir spät dran. Es stellte sich heraus, dass einige Taschen jetzt zu schwer waren (wir hatten Mitbringsel erstanden) und wir mussten erst einmal gleichmäßiger umpacken. Beim Durchleuchten des Handgepäcks wurde dann die Nagelschere eines Mitreisenden entdeckt, und die durfte nicht ins Flugzeug. Wir erinnern uns: Ganz kurz vorher, im September 2001, hatten die Anschläge in den USA stattgefunden und am Flughafen herrschte darum eine äußerst angespannte Stimmung.

Die herrschte allerdings bei mir auch, und ich wählte den denkbar ungünstigsten Moment, den Ärger der vergangenen zwei Tage raus zu lassen. Ich ignorierte die Beruhigungsversuche des Scherenbesitzers und fing an, mit der Dame am Check-In zu diskutieren, sagte, das sei eine teuer zu ersetzende Linkshänderschere und überhaupt, auf dem Hinflug gestern sei das ja schließlich auch kein Problem gewesen. Sie blieb hart. Da rutschte mir ein ironischer Kommentar heraus: „This is a harmless object, what do you think who we are? Look at us, we are terrorists“ – Das ist ein harmloses Objekt, was denken Sie bitte, wer wir sind? Schauen Sie uns an, wir sind Terroristen. Sie verzog keine Mine und zeigte sich etwas offener hinsichtlich einer möglichen Mitnahme der Schere. Ich fiel natürlich darauf herein, denn sie schindete nur etwas Zeit.

Einen Moment später tippte mir jemand auf die Schulter. Ich drehte mich ärgerlich um und sah zunächst nur einen großen Brustkorb, vor dem ein Maschinengewehr hing. Zwei hünenhafte Sicherheitsleute entfernten uns aus der Schlange und mich von den anderen, einer nahm mir meinen Ausweis ab und sprach in einiger Entfernung in sein Funkgerät, der andere stellte mich zur Rede: was ich genau gesagt hätte, wie ich das gemeint hätte, was mein business in London gewesen sei.

Ich war geschockt und so eingeschüchtert, dass ich auf einen Schlag sämtliches Schulenglisch vergaß. Mit Mühe, zitternden Knien und knallrotem Gesicht brachte ich heraus, dass das ironisch gemeint gewesen sei, und naja, eine Schere zum Schneiden von Nägeln… äh… stotter.

Die restliche Reisegruppe wartete nervös etwas entfernt, die vermaledeite Nagelschere war zur Zufriedenheit der Sicherheitsleute natürlich längst auf Nimmerwiedersehen abgegeben worden und nun war es plötzlich ich, der dafür sorgte, dass wir unter Umständen den Flieger verpassen würden.

Aber so kam es nicht. Der Sicherheitsmann sah, dass ich mir fast in die Hose machte, sein Kollege hatte nach Prüfung meines Ausweises Entwarnung signalisiert. Also beließen die beiden es bei einer Verwarnung. Ich bekam den Ausweis zurück, wir nahmen die Beine in die Hand und stürmten wie die Familie bei „Kevin allein zu Haus“ zum Flugzeug (Szene bei YouTube).

An den Rest der Heimreise kann ich mich nicht erinnern. Übrigens sind auch alle touristischen Erkundungen in London komplett aus meinem Gedächtnis gelöscht. Ich weiß nur: Das war meine erste und letzte Reise in dieser Konstellation, an Flughäfen bin ich seitdem sehr unterwürfig und Nagelscheren gehören nicht ins Handgepäck.

Über den Kauf von Onlinemedien

Kürzlich habe ich einen Film bei einem Streaminganbieter geliehen. Das läuft überall gleich: Nach der Bezahlung hat man 30 Tage, um den Film erstmalig anzufangen und mit Start des Films noch ein paar Stunden Zeit, ihn zu beenden, meist 48. Danach verschwindet er aus der Mediathek. Das funktioniert ähnlich wie bei den VHS-Kassetten, die man damals in einer Videothek auslieh – die Älteren werden sich erinnern.

Beim Kauf von Streaming-Videos ist das anders: Man bezahlt, hat den Film danach für immer in der eigenen Mediathek und kann ihn so oft anschauen, wie man will. Nun ja: „Für immer“ ist ein langer Zeitraum. Was, frage ich mich schon länger, ist denn, wenn der Anbieter den Film aus seiner eigenen Mediathek löscht, also die Lizenz selbst nicht weiter bezahlt? Stellt sich raus: Dann verschwindet der Film auch aus meiner eigenen Liste und ist weg. Mein „Kauf“ ist also nur ein „längerfristiges Nutzungsrecht“, das so lange gilt, bis der Anbieter es sich anders überlegt (so erst kürzlich bei Sony passiert). Wieso darf dann überhaupt der Begriff „Kauf“ genutzt werden, wenn es doch eher eine Dauerleihgabe mit unbestimmtem Ende ist?

In diesem Zusammenhang fand ich den ziemlich deutlichen und teilweise auch bösen Text „If buying isn’t owning, piracy isn’t stealing“, der die Problematik auf ein ganz anderes Level hebt: Wenn meine Filme weg sind, ist das ärgerlich. Aber diese Kauf-Leihgabe-Problematik trifft andere Menschen viel härter: So sind für manche User deren in Photoshop erstellten Bilder nicht mehr benutzbar, weil sie Farben verwendet haben, deren Lizenz bei Adobe jetzt ausgelaufen ist. Wer mit Fotos Geld verdient, für den kann das existenzbedrohend sein.

Nicht nur deswegen kaufe ich seit mehreren Monaten eBooks in einer digitalen Buchhandlung: Bei Genialokal erhalte ich die eBooks als Datei zum Download. Sie gehören dann mir, ich kann sie auf beliebigen Geräten lesen und in mein digitales Regal stellen. Gehen sie dort verloren, lösche ich sie also versehentlich vom Server, bin ich selbst schuld – ganz genau so wie damals bei der gekauften VHS-Kassette.