Die vergangene Nacht

Die vergangene Nacht war besonders. Ihr wart zusammen weg, erst essen, dann in eine Bar, in eine zweite und irgendwann fandet ihr euch auf einer Tanzfläche wieder, wie das eben so passiert. Die Musik dröhnte, genau richtig also, man konnte sich nicht mehr unterhalten, aber das wolltet ihr auch nicht. Die einzige Verständigung war die Körpersprache und dir fiel wieder einmal auf, wie gern du Zeit mit ihm verbringst.

Die vergangene Nacht war laut, in der Bahn zurück musstet ihr euch anschreien, weil die Musik in euren Köpfen nachhallte. Der Alkohol wird einiges dazu beigetragen haben, aber egal, das gehört so. Auf dem Nachhauseweg habt ihr euch eure peinlichsten Erfahrungen erzählt und extra noch einen Umweg gemacht, um länger reden zu können. Nahmt Pizza mit auf den Spielplatz zum Wettschaukeln.

Die vergangene Nacht war lang, aber keine Sekunde verschwendet. Ihr wart wieder Kinder, die nicht schlafen wollen, fandet immer neue Gründe, noch nicht ins Bett gehen zu müssen. Irgendwann kam die Müdigkeit doch – dämmerte es etwa schon? Arm in Arm auf dem Weg zu dir, jeder mit einem kalten Rest Pizza in der Hand. Zu Hause gab es einen letzten Drink, „der muss jetzt noch sein“, „aber klar, es wird ja erst hell“, Lächeln.

Die vergangene Nacht war es wert, einen Kater hattet ihr beide lange nicht, „ich kann mich gar nicht erinnern, wann“. Nach dem Drink ins Badezimmer, dem anderen das Licht ausschalten, albern, weiter lachen. Dann ins Bett, „klar schläfst du hier bei mir“, nicht ohne Hintergedanken. Und beim Zwitschern der Vögel schlieft ihr miteinander, mit viel Spaß, Hingebung, voller Gefühle und Emotionen.

Die vergangene Nacht war ein Traum, auch beim Aufwachen am Mittag. Er lächelte dich an, wirkte zufrieden, du auch, und „nur ein bisschen Kopfschmerzen. Kaffee?“ Klar, sagte er, und fügte später hinzu, er freue sich, dass er zum Frühstück bleiben dürfe. „Ich hab dich gerne bei mir“, und wieder Lächeln. Nach dem Essen musste er gehen, schade eigentlich, aber ihr wollt es wiederholen. Auch wenn du wusstest, dass solche Nächte nicht planbar sind, vielleicht klappt es ja doch.

Die vergangene Nacht war besonders.

Er ist gegangen, du sitzt noch ein wenig am Frühstückstisch und lässt die Gedanken schweifen. So hattest du es gar nicht vor gehabt. Klar, er war nett, sympathisch, sogar anziehend. Aber bis zum Morgengrauen hast du es seit Jahren nicht ausgehalten. Die richtige Menge an Alkohol? Wohl eher die richtige Menge an Mensch. Du siehst gedankenversunken aus dem Fenster über die Stadt… da riechst du es. Oder: ihn. An dir. Ihr seid beieinander eingeschlafen und aufgewacht, viele Stunden Haut an Haut, Warm an Warm, jetzt merkst du, dass dir ein fremder Geruch anhaftet. Die durchtanzte Nacht? Auch, aber hauptsächlich er. Anregend. Wiederholenswert.

Du beschließt, erst später zu duschen und räumst den Frühstückstisch auf. Immer noch lächelnd, schnuppernd, genießend.

Moderne Zeiten

Wir leben in einer seltsamen Welt. Der eine Teil ist technologisch auf dem höchstmöglichen Stand, der andere Teil freut sich über fließendes Wasser. Ich werfe einen kurzen Blick auf den erstgenannten Teil, die „westliche Welt“, die Industriestaaten.

Wenn man es genau betrachtet, sind nämlich selbst diese auch mehr Schein als Sein. Man stelle sich Frankfurt am Main vor, Deutschlands Bankenstadt Nummer eins. Glasfassaden, Hochhäuser, der glatte und kalte Stil ist ja gerade enorm angesagt. Aber wenn man einmal buchstäblich hinter die Fassaden schaut, erkennt man deutlich, von was sich diese Welt entwickelt hat:

Die Manager beschließen Millionenprojekte, während zehn Meter unter ihnen stinkende Scheiße durch alte Kanäle quillt. Millionen Kilometer Rohre bringen das Abwasser weg und frisches Wasser her. Genau so ist es mit dem Strom; es ist enorm aufwändig, abends nicht im Dunkeln zu sitzen. Wir können auf den Mond fliegen, aber hinter jeder Schrankwand liegen trotzdem fünf Mehrfachsteckdosen, weil man ohne Kabel eben nicht auskommt. Wir bauen Autos, mit denen man schneller fahren kann als der Schall – aber wer samstags versucht hat, bei IKEA einen Parkplatz zu finden, kennt das eigentliche Problem mit diesem Fortbewegungsmittel (vom Treibstoff fange ich gar nicht erst an).

Wenn Außerirdische auf unseren Planeten kämen, die uns in den Erfindungen um tausende Jahre voraus sind – wie würden sie wohl über uns denken? „Die Blender! Schaffen es nicht mal, einen Straßenbelag herzustellen, der dem Frost standhält.“

Manchmal besinne ich mich darauf,

  • dass wir von Jägern und Sammlern abstammen,
  • dass immer noch Menschen an Krankheiten sterben, die nicht behandelbar sind,
  • dass es unnormal ist, wenn mein Obst schon weiter gereist ist als ich,

und dann stelle ich fest, dass wir Menschen ganz schön klein und manchmal auch ziemlich hilflos sind. Aber dann nehme ich mein iPhone, mache ein Foto und poste es im Internet. Und dann freue ich mich, dass wir nicht mehr in Höhlen leben müssen und bin zufrieden mit dem, was wir jetzt haben. Und ich bin gespannt auf das, was noch kommt.

Wo bist du mit deinen Gedanken?

Ich weiß nicht, wie die Welt mich sieht, aber ich selbst komme mir vor wie ein spielender Junge am Strand, der seine Zeit damit verbringt, hier und dort einen noch glatteren Stein zu finden oder eine noch schönere Muschel, während der große Ozean der Wahrheit unentdeckt vor mir liegt.

Dieses Zitat von Isaac Newton habe ich vorhin in einem Buch gefunden und es hat mich angesprochen. Warum? Ich komme mir selbst manchmal vor wie dieser Junge. Spielend am Strand, vertieft in seine Stein-und-Muschel-Welt. Ihm ist es völlig egal, was der Ozean voller Wahrheit und Wissen ihm zu bieten hat, in diesem Moment sind nur die glatten Steine und die schönen Muscheln wichtig.

Es ist gut zu wissen, wenn man sich ab und zu verhalten kann wie dieser Junge. Wenn man gar nicht erst versucht, die unendliche Weisheit zu erlangen und nach dem Höchsten zu streben, weil das ohnehin nicht funktioniert. Wenn man sich stattdessen ab und zu lieber am kleinen Kind in sich selbst erfreut, das Blumen schön findet, Sonne und die Aussicht. Und das über Schmetterlinge lachen kann.